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Computerwissenschaft: Selbstbewusstsein ist ein Fluch

Der Computerwissenschaftler David Gelernter befasst sich mit Kunst und künstlicher Intelligenz. Eine Begegnung.

Von Gregor Dotzauer

Wenn man sich die Villa der American Academy am Wannsee für einen Moment als richtige Universität vorstellt, hat auch das hier beheimatete Wissen seine schöne Ordnung. Im Vordergrund ein grüner Campus. Ein Aufgang führt durch das Hauptportal ins Foyer, von wo aus sich alles zu den einzelnen Fakultäten verzweigt. Aber dann sitzt zwischen den Bücherschluchten der Bibliothek David Gelernter, der zusammen mit seiner Frau Jane und den beiden Söhnen eine Woche lang gerade der einzige Gast dieses Hauses ist, und denkt all das normalerweise Getrennte in einem einzigen Energiestrahl zusammen. Eine halbe Minute, und er rühmt Ludwig Wittgensteins Mehrfachbegabung als Sprachphilosoph, Schriftsteller, Musiker und Architekt. Drei Sätze weiter, und er schwärmt vom theoretischen Genie des Malers Mark Rothko. Wenige Atemzüge später ist er schon wieder bei Alan Turing, der Mitte des 20. Jahrhunderts fälschlicherweise prophezeit hatte, dass die wesentlichen Probleme der Künstlichen Intelligenz zur Jahrtausendwende gelöst sein würden.

David Gelernter, Professor für Computerwissenschaft in Yale, ist nicht nur ein Universalgelehrter. Er ist, wenn man den Internetvisionär, den Maler, den Schriftsteller und Publizisten hinzunimmt, auch so etwas wie der zeitgenössische Vertreter einer romantischen Universalpoesie, jener Wissenschaft und Kunst vermählenden Idee, die zwei Jahrhunderte nach Friedrich Schlegel oft nur noch wie schlechter Synkretismus wirkt. „Manchmal wirft man mir vor, ich hätte zu viele Interessen“, sagt Gelernter. „Im Grunde sind es aber nur wenige. Ich bin besessen von dem Punkt, an dem sich Kunst, Religion und menschlicher Geist kreuzen.“

Religion ist dabei nicht nur ein diffuses ozeanisches Gefühl, sondern die konkrete Tradition eines Judentums, dessen tragende Prinzipien er in seinem jüngsten Buch „Judaism – A Way of Being“ (Yale University Press 2009) aufzuschlüsseln versucht – als einen Glauben, der sich durchaus mit größtmöglicher Rationalität verträgt. Zugleich gilt für ihn aber: „Die ästhetische Herangehensweise an Religion kann spirituell noch tiefer gehen als die theologische. Man sagt zum Beispiel von William Blake, dass ihn erst die Kunst zum glühenden Christen machte.“ Als junger Gehilfe des Kupferstechers der Londoner Society of Antiquaries zeichnete der Maler und Dichter Blake die Königsgräber in Westminster Abbey, kletterte auf ihnen herum und soll sogar der Öffnung von King Edwards I. Gruft zugesehen haben – Erfahrungen, die ihn für immer prägten.

Der Zugang zum Religiösen war auch für Gelernter lange von ästhetischen Erlebnissen bestimmt. „Es gab Zeiten, in denen ich mich zu einem künstlerischen Absolutisten erklärte. Die einzige Autorität, die ich anerkannte, war die von Beethoven oder Shakespeare. Aber das moralische Universum braucht einen Anker. Ich werde nicht auf meine Autorität verzichten, um Mord eindeutig zu verurteilen. Wenn ich mit einem Dschihad-Kämpfer darüber streite, ob es in Ordnung ist, Menschen umzubringen, werde ich nicht sagen: Keiner von uns ist göttlich, keiner ist ein Prophet, also soll jeder sich so verhalten, wie er meint. Ich kann die Überzeugungen, die ich als Jude mitbekommen habe, nicht aufgeben, obwohl ich oft genug dazu verführt war.“

Heute sind bei ihm poetisches, religiöses und analytisches Denken gleichberechtigt, so gern Gelernter die Brillanz seines Verstandes herunterspielt. „Ich denke nur selten analytisch. Ich denke in Metaphern und Bildern. Was mich umtreibt, ist eine gewisse Schönheit in der Kunst und der Literatur, und es ist eine hilfreiche, wenn auch nicht untrügliche Eigenschaft des Universums, dass Schönheit eine Orientierungshilfe für Wahrheit ist.“

Dabei zitiert er gerne die Dichter der englischen Romantik. „Ich bin fasziniert von Coleridge und Wordsworth – und mit Abstrichen von Blake. Ihre Texte zeugen von einem ungeheuren Verständnis für die Arbeitsweise des menschlichen Geistes. Aber bin ich Romantiker? Die Poesie, die mir am meisten bedeutet, ist die der Lieder in der hebräischen Bibel. Sie ist romantisch, weil sie leidenschaftlich ist. Die größte Leistung in der Kunst besteht darin, die Tiefe der eigenen Leidenschaft bis an den Punkt zu treiben, hinter dem das Sentimentale und die theatralische Zurschaustellung beginnen. Michelangelo kannte den Bruchteil des Millimeters, auf den es dabei ankommt. Da hielt er inne, deshalb ist seine Kunst zeitlos. Rodin dagegen machte brillante Entwürfe, aber mit seinen Skulpturen überschreitet er diesen Punkt immer wieder. Und Degas erreicht diese Grenze erst gar nicht.“

Als leitender Wissenschaftler der Firma Mirror Worlds Technologies war Gelernter einst ausgezogen, auch in die Computerwelt Schönheit zu tragen und Großunternehmen wie Microsoft Konkurrenz zu machen. Vieles, wovon er träumte, ist seitdem Wirklichkeit geworden – nur anders als gedacht. Das World Wide Web, das er in „Mirror Worlds“ (1991) für das nächste Jahrtausend voraussagte, begann schon 1994 aufzublühen. Die Lifestreams, die ihm als chronologische Datenspur eines jeden Lebens vorschwebten, haben sich bei Twitter und diversen News-Feeds gebildet. Und der Markt für Cloud Computing, die Idee also, Programme und Hardwareleistungen auszulagern und bei Bedarf abzurufen, wächst beständig. Der Streit um entscheidende Reste der damit verbundenen ökonomischen Hoffnung jedoch wird demnächst vor Gericht ausgetragen. Im September findet der angeblich größte Urheberrechtsprozess in der Geschichte der Softwareentwicklung statt – gegen Apple. Gelernter, der sich längst aus allen Geschäften zurückgezogen hat, betrachtet Teile des Mac-Betriebssystems wie Time Machine und Spotlight als schlicht geklaut. Da ist es nur ein kleiner Trost, „dass die Zukunft des Computers in unserem Alltag nicht im iPhone oder iPad liegt, sondern in Großbildschirmen. Die Menschen werden auf Schirme an der Wand schauen, statt sie mit sich herumzutragen.“

Das Praktische, das Theoretische und das Kulturkritische gehören für Gelernter zusammen. „Es scheint mir wichtig, dass die Bürger ihre Hände nicht in technologischer Unschuld waschen. Viele erklären zu schnell: Ich verstehe diese Technologie nicht. Ich gebe mir aber auch keine Mühe, sie zu verstehen.“ Die Chancen einer solchen Anstrengung beurteilt er allerdings skeptisch: „Früher musste man einmal wissen, wo man welche Informationen findet. Was sich aber mühelos bekommen lässt, ist in den Augen anderer nichts wert. Wenn es mich nur ein paar Tastaturanschläge kostet, Wissen zu beschaffen, schätze ich es anders, als wenn ich erst nachdenken muss, wo ich es herbekomme. Womöglich hätte ich mit jemandem gesprochen oder ein Buch gelesen, das mich auf Dinge bringt, die ich gar nicht gesucht habe. Wie viele Studenten sagen sich heute: Um Himmels Willen, ich will gleich zum richtigen Absatz kommen, ich will mich nicht vom ganzen Buch ablenken lassen. Der Weg des geringsten Widerstands bringt zwar oft die größte wirtschaftliche Produktivität, aber er ist gefährlich für die Menschheit.“

Schon die schwachen Formen künstlicher Intelligenz, die Menschen derzeit auf die Sprünge helfen, und sei es nur durch die Algorithmen von Amazon-Empfehlungen, bilden eine Gegenmacht, die bei aller ordnenden Kraft eher die entgegengesetzte Richtung führt. Was nützt es, dass, wie Gelernter glaubt, die ganze Dimension des menschlichen Geists vom rationalen Urteil bis zur mystischen Erfahrung und dem Traum von keiner Software erreicht wird? „Im Prinzip kann man zwar Computer-Träume und freies Assoziieren ziemlich lebensecht simulieren lassen. Wenn man den Konzentrationsregler eines Programms weit aufzieht, werden Informationsketten rein rational verarbeitet. Wenn man ihn herunterschiebt, entwickeln sich tangentiale Abweichungen. Aber jeder Computer, der vorgibt, die Kontrolle über sein Denken zu verlieren, kann nur eine Serie kognitiver Ereignisse beim Menschen nachbilden. Es heißt noch lange nicht, dass er einen Geist hat.“

Die entscheidende Differenz heißt für ihn Bewusstsein. Es stört ihn wenig, dass sich die Philosophie an der Bewusstseinsfrage die Zähne bisher vergeblich ausgebissen hat – und Denker wie Richard Rorty und Thomas Nagel alle Gedankenexperimente, was denn nun in letzter Instanz den seelenlosen Zombie vom beseelten Menschen trennt, als unentscheidbare Sprachspiele zurückgewiesen haben. Gelernter fühlt sich dabei nicht nur mit dem Philosophen John Searle im Bunde, sondern vor allem mit dem Common Sense. „Ich weiß, dass ich kein Zombie bin, weil ich kein Solipsist bin. Die Ablehnung des Solipsismus ist die natürliche Funktionsweise der menschlichen Intelligenz. Woher weiß ich, dass Sie existieren? Ganz einfach: Wenn ich ein anderes Tier sehe, das einen Kopf hat und Augen, dann nehme ich an, dass das, was sich in meinem Kopf abspielt, auch in seinem Kopf abspielt.“

Ist der Mensch deshalb ein Geistesriese und der Computer ein Zwerg? Gelernter behagt die Alternative nicht: „Viele natürliche Phänomene werden durch Spektren und kontinuierliche Übergänge definiert. Wir fühlen uns verpflichtet, zwischen den Polen von Ja und Nein, dem Riesen und dem Zwerg, dem Klassischen und dem Romantischen zu wählen. Aber denken Sie an Tennis. Die Regeln, die Linien des Platzes und das Netz sind das Klassische. Der Drang aber, den Ball so hart wie möglich übers Netz zu schlagen, ist das Romantische. Um ein Match zu gewinnen, braucht man die Balance zwischen beidem."

Den Preis von Bewusstsein, nämlich Selbstbewusstsein, kennt er indes genau: „Warum sonst betrinken sich Menschen? Selbstbewusstsein ist der Fluch, den auch alle menschliche Kunst zu überwinden trachtet.“ Viel mehr beschäftigt ihn: „Ist die Entität des Bewusstseins ein Du oder ein Es? Habe ich moralische Verantwortung für sie, oder erlegt sie umgekehrt mir Pflichten auf? Martin Buber schrieb ein berühmtes Buch mit dem Titel ,Ich und Du’, aber dieses Jahrhundert wird sich mit dem Du und dem Es beschäftigen müssen.“ Es klingt, als sei er in dieser Frage selbst noch nicht entschieden.

Zur Person:

David Hillel Gelernter, 1955 geboren, lehrt Computerwissenschaft an der Yale University und zählt zu den prominentesten Vertretern einer Third Culture um John Brockman und die Edge Foundation.1993 schickte der technologiefeindliche Unabomber Theodore Kaczynski Gelernter eine Briefbombe, die ihm den rechten Arm abriss. Gelernter verarbeitete das Erlebte in Drawing Life – Surviving the Unabomber (1997).

Das Problemfeld von Kunst und Künstlicher Intelligenz beschäftigte ihn schon in The Muse in the Machine (Computerizing the Poetry of Human Thought, 1994) und Machine Beauty (Elegance and the Heart of Technology, 1998). In Deutschland erscheinen seine Essays regelmäßig in der „FAZ“, wo er im März sein zweites Internet-Manifest veröffentlichte.

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