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Kultur: Das Argument und das Ich

Thilo Sarrazin liest auf der Buchmesse. Ein Versuch, ihm zuzuhören / Von Andreas Maier

Thilo Sarrazin liest auf dem Blauen Sofa. In erster Linie hat man Wiedererkennungserlebnisse. Da ist jemand von Anfang an in Verteidigungshaltung. Da geht es ständig darum, ob man das Buch gelesen habe. Da spricht jemand davon, dass er in seinem Buch „Literatur“ zitiert. Der Autor hat also gelesen, und das, was er gelesen hat, irgendwie zusammengefügt. Lesen darf jeder, zusammenfügen auch. Und da ist jemand, dessen Appell ständig ist, doch bitte sachlich über das zu reden, was er gelesen und zusammengefügt hat. Ich kenne jede Menge seltsame Menschen, die jede Menge Dinge zusammenlesen und zusammenschreiben und unter die Menschen bringen. Meistens begegnet man ihnen auf Straßen, auf Bahnhöfen, und sie wollen dir unbedingt etwas erzählen. Und sie wollen unbedingt mit dir argumentieren.

Ich habe dort auf dem Blauen Sofa einen Autor gesehen, der über Menschen redet, auf eine ganz gewisse Weise. Er redet nicht über einzelne Menschen, und wenn, dann nur, als sei der Mensch ein Beispielfall. Ansonsten redet er über Kollektive, nennen wir es Bevölkerung, wie auch immer. Er redet über die Zusammensetzung dieser Ansammlung von Menschen, und wie sie sein soll. Im schlecht beschallten Saal wummern Worte wie Bildung, Intellekt, Bildungsabschluss, dann aber auch Worte wie Denunzierung, oder Formulierungen wie „Argumente, die inhaltlich wahr sind“. Alles das wird von einem Ich gesagt. Dieses Ich hat gelesen und zusammengefügt. In dem Interview mit Frank Schirrmacher in der „FAZ“ fand ich schon höchst befremdlich, was der Mann für ein Bildungsverständnis in Hinsicht auf die eigene Person hat. Ein Text als Sammelsurium, ein Ich als Sammelsurium aus irgendwie angeordneten Thesen, teils eigener Wille und Geschmack, teils eben der „Literatur“ entnommen. Nichts durchgebildet. Argumentativ kann man gegen einen solchen Aufwasch kaum gewinnen. Da muss man schon grundsätzlicher werden.

Ich habe ein paar Seiten des Buches von Thilo Sarrazin gelesen, und schön war es nicht. Die Worte rochen nicht schön. Der Stil ist die Physiognomik des Geistes, heißt es bei Schopenhauer. Ich habe ein rein vorsprachliches Gefühl dafür, wie jemand Worte einsetzt. Sachlich ist das nicht. Aber vielleicht grundsätzlicher. In erster Linie kamen mir aus diesen Seiten Mitleidslosigkeit entgegen, eine große Distanz zu irgendeiner Wärme. Das Ich dieser Seiten stand der besprochenen Menschengruppe, Menschenansammlung wie ein Künstler gegenüber, der irgendetwas modellieren will. Es herrschte ein totales Missverhältnis zwischen diesem Ich, das eigentlich nur aus dem angelesenen Sammelsurium bestand, und dem großen Gegenstand, um den es ging, uns, den Menschen. Wäre da mehr Ich, wäre vielleicht auch etwas weniger großes Gerede über uns und wie wir sein sollen.

Andreas Maier lebt als Schriftsteller in Frankfurt/Main. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Das Zimmer“.

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