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Auf der Flucht. Zwei Frauen in einem Eisenbahntunnel nahe der Stadt Kesennuma.

© REUTERS

Das atomare Risiko: GAU und Glaube

Größer, schlimmer, unwahrscheinlicher: Warum wir das atomare Risiko nicht zu Ende denken.

Was jetzt im japanischen Kernkraftwerk Fukushima passiert, wird nicht deshalb als Super-GAU bezeichnet, weil es eine besonders große Katastrophe darstellt. Darum wäre auch der Ausdruck Mega-GAU keine treffende Bezeichnung. Das lateinische super bedeutet hier nicht groß,sondern über etwas hinaus, also: dass ein Unglück über den GAU hinausgeht, über den „größten anzunehmenden Unfall“. Wenn Super-GAU sich auch unlogisch oder nach schlechtem Deutsch anhört, so ist es letztlich ein Hinweis auf die menschliche Hybris und die Neigung, Risikokalkulationen aufgrund von Glaubensannahmen nicht zu Ende zu denken.

GAU: Der Begriff meint nicht den größten denkbaren Unfall, sondern den größten gedachten Unfall – den nämlich, den Anlagenbetreiber und Regierung als äußerst unwahrscheinlich, aber gerade noch als möglich annehmen. Wobei ökonomische und politische Überlegungen abgewogen werden. Kernkraftwerke müssen darauf ausgelegt sein, diesen GAU gefahrlos zu überstehen. In der Fachsprache hat sich deshalb neben GAU auch der Begriff Auslegungsstörfall etabliert.

Die japanischen Reaktoren etwa waren durchaus für ein Erdbeben der Stärke 8,2 mit nachfolgendem Tsunami und den Ausfall des regulären Kühlsystems ausgelegt. Im Normalfall sollte gute Vorsorge es gar nicht erst so gefährlich werden lassen; aber für den Fall, dass der GAU doch einzutreten droht, gibt es Back-up-Systeme wie die für die Notfallkühlung vorgesehenen Dieselgeneratoren in Fukushima.

Wenn der GAU nicht eintritt, liegt es also nicht daran, dass er nicht eintreten könnte. Das ist ja gerade das, was unsere Vorstellung als wenn auch unwahrscheinlich, so doch möglich annimmt. Es liegt dann daran, dass die Sicherheitsvorkehrungen gegen den GAU greifen.

Diese Erfahrung und Vorstellung von Sicherheit ist trügerisch. Sie führt bei Anlagenbetreibern und Regierungen auch dazu, davon auszugehen, dass ein Unfall nicht eintreten kann, der über das Angenommene hinausgeht. Doch jeder Super-GAU – Tschernobyl oder die Explosion der Ölbohrplattform im Golf von Mexiko – zeigt schmerzlich aufs Neue, dass Unfälle sehr wohl über das Angenommene hinausgehen können. So waren die Kernkraftwerke nicht auf ein Beben der Stärke 9,0 ausgelegt. Und sie waren ausgelegt auf einen Ausfall des regulären Kühlsystems, nicht aber auf den Ausfall der Notfallkühlung, weil das nicht vorstellbar schien.

Was heute ein nicht angenommener Super-GAU ist, ist morgen ein anzunehmender GAU. Spätestens wenn er einmal eingetreten ist, ist er auch weiterhin vorstellbar, dann können wir uns seiner unwahrscheinlichen Möglichkeit nicht mehr verweigern. Anlagenbetreiber und Regierung schließen ihn dementsprechend in ihre Risikokalkulation ein und wappnen sich dagegen, indem sie den GAU neu definieren – den Fall, den zu überstehen die Kernkraftwerke ausgelegt sein müssen. Deshalb haben wir auch geglaubt, dass es bei uns kein zweites Tschernobyl geben könnte. Zwar wurden wir damals vom Nicht-Gedachten überrascht, wir haben es seitdem aber immer mitbedacht und entsprechend höhere Sicherheitsanforderungen gestellt. Deshalb mussten die unsicher erscheinenden Reaktoren alten sowjetischen Designs vom Netz gehen, als Litauen und Bulgarien der EU beigetreten sind. Dass eine Kernschmelze à la Tschernobyl in einem – moderneren – westeuropäischen Kernkraftwerk passieren könnte, haben wir, haben Anlagenbetreiber und Regierung für ausgeschlossen gehalten.

Dem Gedanken aber, dass weitere unwahrscheinliche Möglichkeiten doch Realität werden könnten, verweigern wir uns weiterhin. Denn als rational und fortschrittlich denkende Menschen neigen wir zu der Auffassung, dass wir schon wissen, was wir beherrschen und was passieren kann. Bis wir eines Tages eines Besseren belehrt werden.

Die eigentliche Frage bei der Kernenergie war deshalb nie, ob sie beherrschbar ist oder es zumindest mit weiterem technologischem Fortschritt sein könnte. Denn eine Garantie kann es nicht geben. Vielmehr hätte die Frage immer sein müssen, ob wir tatsächlich bereit sind, das nicht ausschließbare Restrisiko einzugehen. Risiken einzugehen ist nicht ungewöhnlich; wir alle tun es täglich im Straßenverkehr. Trotz Anschnall- und Motorradhelmpflicht besteht ein Restrisiko, und mitunter erhöhen wir es gerade durch diese Sicherheitsmaßnahmen, wenn wir glauben, deswegen schneller fahren zu können. Ein Risiko einzugehen ist per se auch nicht leichtfertig – wenn wir die Folgen zu tragen bereit sind. Als Gesellschaft bauen wir trotz des Unfallrisikos den motorisierten Straßenverkehr aus, weil uns die Vorteile der erhöhten Mobilität wichtiger erscheinen als die unausweichlichen Verkehrsopfer.

Fahrlässig ist es hingegen, wenn wir ein Risiko eingehen, weil wir nicht annehmen, dass der Ernstfall überhaupt eintreten kann. Wenn wir uns etwas vormachen und uns über die Risiken täuschen, das Denkbare nicht denken. Sind wir als Gesellschaft, sind Anlagenbetreiber und Bundesregierung auch beim Bau und Weiterbetrieb der Kernkraftwerke bereit, die Folgen zu tragen? Die sehr realen Folgen eines sehr unwahrscheinlichen, aber möglichen Super-GAUs? Haben wir die Risikokalkulation wirklich zu Ende gedacht, oder wollen wir weiterhin glauben, dass es einen Super-GAU bei uns nicht geben kann?

Wenn die Bundesregierung jetzt die Kernkraftwerke in Deutschland überprüfen will – darauf, ob es hinter dem ersten Notfallsystem noch ein zweites und drittes gibt –, dann ist das besser als nichts. Aber damit versucht sie auch nur wieder, die Frage der Beherrschbarkeit zu beantworten. Nach Tschernobyl sollte durch erhöhte Sicherheitsanforderungen ein zweites Tschernobyl ausgeschlossen werden. Nach Fukushima kann man auch versuchen, ein zweites Fukushima auszuschließen. Aber auch dann ist ein anderer Super-GAU denkbar.

Die eigentliche Frage, die die Bundesregierung und wir alle als Gesellschaft in dieser Situation beantworten müssen, ist, ob wir wirklich bereit wären, die Folgen eines nuklearen Super-GAUs zu tragen, wie ihn die Japaner jetzt leidvoll erfahren. Oder ob diese Folgen zu schwerwiegend sind, als dass wir sie zu tragen bereit wären, und wir uns von der Kernenergie verabschieden sollten, bevor das unwahrscheinlich Mögliche unsere Glaubensannahmen über den Haufen wirft.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Energie- und Klimapolitik im Alfred-von-Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

Marcel Viëtor

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