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Kultur: Das bewaffnete Auge

Als Berlin in Trümmern lag: Fotografien und Filme zum Ende des Kriegs. Ein Streifzug

Das Erste, was die beiden Parlamentäre der Roten Armee von ihrem Gegner zu Gesicht bekommen, ist ein Hintern. Der schiebt sich hoch oben über eine Balkonbrüstung, es folgen Reiterstiefel und eine Wehrmachtsuniform, der Kommandant der Spandauer Zitadelle klettert eine Strickleiter hinab. Er wird später den merkwürdigen Satz sagen: Eine Kapitulation könne für einen deutschen Offizier nur in Übereinkunft mit seinen ethischen Maßstäben erfolgen.

Es liegt viel untergründiger Humor in dieser Szene, einem Schlüsselmoment von Konrad Wolfs legendärem Kriegsfilm „Ich war neunzehn“ (1967). Den besiegten Herrenreiter bei seinem letzten Auftritt von seiner unvorteilhaftesten Seite zu zeigen, ja zeigen zu müssen, da der es in seinem Durchhalte- und Verbarrikadierungswillen selbst so will, das hat Charme. Beinahe könnte man die Polemik vergessen, mit der Wolf hier einen von der Außenwelt abgeschnittenen Befehlshaber als lächerliche Figur in dem Schmierentheater vorführt, das die Nazis in ihrem Untergang inszenieren.

Sechzig Jahre nach Kriegsende wird ausgerechnet Wolfs antifaschistischer Neorealismus zum gerne gesehenen Erinnerungsvehikel. Er belegt, wie stark die Auseinandersetzung in diesem Gedenkjahr um historisch verbürgte Zeugnisse, um das wirklich Erlebte kreist. Wolf war 1933 mit Mutter und Bruder über Umwege in die Sowjetunion emigriert, wohin der Vater Friedrich vorausgeeilt war. Ende 1942 wurde „Koni“ als sowjetischer Staatsbürger eingezogen und der Politabteilung der 47. Armee zugewiesen. Er marschierte vom Rand des Kaukasus bis nach Berlin, wobei er meistens gar nicht marschierte, sondern in einem Lautsprecherwagen an die Front fuhr, um deutsche Soldaten zur Desertion zu bewegen. Als Wolfs 19-jähriges Alter Ego Gregor Hecker im Film mit den russischen Truppen ins Land seiner Kindheit zurückkehrt, ist der nationalsozialistische Zauber verflogen, doch der Bann wirkt fort. Die Menschen hausen alle in einer Art Zitadelle, aus der sie den Ausweg nicht kennen.

In den Wirren der letzten Tage war die Kapitulation der Spandauer Festung am 1. Mai 1945 nur eine Episode. Doch setzt sich das Kriegsende nur aus derlei Episoden zusammen. Das zeigt nun eine von der Stiftung Topografie des Terrors wieder aufgelegte Dokumentation über den letzten Akt von Hitlers Vernichtungswahn. Die bereits vor zehn Jahren konzipierte Schau „Berlin 1945“ ist nun überarbeitet in einem jener Kasernengebäude der dickwandigen Festungsanlage untergebracht, in der ab 1936 das Heeresgasschutzlaboratorium residierte. Es stünde nicht mehr, wenn die Rote Armee das Gelände hätte stürmen müssen.

Wie viel Verwüstung die Schlacht um Berlin andernorts anrichtete, machen etwa 600 Fotos deutlich. Das Bildmaterial entstammt dem üblichen Fundus sowie russischen und britischen Archiven und erfüllt, was eine Dokumentation leisten muss: Es gibt einen Überblick, nüchtern, unbeteiligt, schonungslos. Wobei ein großer Rückblick auf die Geschichte des Dritten Reiches erklären hilft, warum der Krieg nach Berlin zurückkommen musste. Ob ein schweres Artilleriegeschütz auf der Frankfurter Allee, das Richtung Alexanderplatz feuert, oder die Leichen im Nahkampf gefallener Soldaten beider Seiten in der Friedrichstraße, die von einem verzweifelt-hoffnungslosen Ausbruchsversuch eingeschlossener Endkämpfer zeugen – aus solchen Bildern spricht eine grimmige Verbissenheit, die selbst durch die pathetischen Fototableaux’ eines Georgi Petrussow oder Jewgeni Chaldej nicht gemildert wird.

Als die Aufnahmen von Petrussow, Chaldej und anderen Fotografen sowjetischer Propaganda-Kompanien vor einem Jahrzehnt entdeckt wurden, erweiterten sie das deutsche Gedächtnis um besonders dramatische Ansichten vom Kriegsgeschehen. Sie schienen Robert Capas Devise („Wenn das Bild nichts taugt, dann warst du nicht nah genug dran“) noch um einiges an Nähe zu übertreffen. Scheuten doch Stalins „bewaffnete Augen“ wie Petrussow oder Dimitrij Baltermants nicht davor zurück, mit den ersten Angriffswellen mitzulaufen, um die Dynamik eines Sturmangriffs einzufangen. Längst zählen ihre Bilder zu Ikonen der Kriegsfotografie. Man wird sie nur deshalb nicht Reportagen nennen können, weil sie von ihren Schöpfern des eindrucksvolleren Effekts wegen nachträglich montiert wurden. Chaldejs berühmte Aufnahme vom ausgebombten, hohlwangigen Reichstag, über den eine Fliegerstaffel als Zeichen des Triumphs hinwegdonnert, belegt die künstlerisch-agitatorische Freiheit des Kämpfers mit Kamera.

Das Prinzip des opulenten Schlachtengemäldes trieb der russische Regisseur Juri Oserow mit seiner fünfteiligen, im Westen kaum bekannten „Befreiung“- Saga auf die Spitze (1969-1971). In dem mehr als siebenstündigen Monumentalfilm, der den Weg der Roten Armee von der Panzerschlacht bei Kursk bis auf das Dach des Reichstages nachzeichnet, dominieren zwar die proklamatorisch-antifaschistischen Anklänge. Stalin wird als samtweiß-gütiger Landesvater gezeichnet, Hitler als schreiendes Nervenbündel. Trotzdem stellt das nun auch auf DVD erschienene Breitwandspektakel (Icestorm) ein beeindruckendes Dokument dar für die bilderwütige Erinnerungskultur, mit der in der UdSSR des „großen vaterländischen Krieges“ gedacht wurde.

Diesem Aspekt der Kriegsfolgen widmet sich auch das Deutsch-Russische Museum in Karlshorst mit der umfangreichen Ausstellung „Triumph und Trauma“. Mit Blick auf die Monumente, Mahnmale, Plakate, Gemälde und Fotos verfolgt das Team die Bildsprache der sowjetischen und postsowjetischen Traumaarbeit, die die hohen Verluste in den eigenen Reihen zur heroischen Geste stilisiert. Am Beispiel des Hitler-Bezwingers Marschall Georgij Shukow wird der wankelmütige Lauf des Schicksals illustriert, nach dem ein Kriegsheld erst in Ungnade fällt, dann rehabilitiert wird, wieder abdanken muss und schließlich postum ins kollektive Geschichtsbild der UdSSR eingeht. Es ist eine lange überfällige Auseinandersetzung mit dem bombastischen Propaganda-Ballast, mit dem Russland seinen Blutzoll von etwa 27 Millionen Kriegstoten zu bewältigen versucht.

Vor diesem Hintergrund ist umso interessanter, sowohl sowjetische als auch west-alliierte und deutsche Zeitzeugen in einer gemeinsamen Ausstellung vergleichen zu können. Im Willy-Brandt-Haus hängen neben Baltermants, Petrussow und Chaldej Werke von Margaret Bourke- White und Lee Miller sowie des fotografierenden GIs Tony Vaccaro, die viel nüchterner die Hinterlassenschaften des Hitler-Regimes einfangen als ihre russischen, am symbolischen Machtwort orientierten Kollegen. Ergänzt wird das Panorama der Niederwerfung durch die irritierend schönen Ruinenlandschaften der beiden Deutschen Richard Peter sen. und Hermann Claasen. Die studierten akribisch, was die Bombardements der Alliierten aus Dresden und Köln gemacht hatten – eine entvölkerte Trümmerlandschaft von pittoresker Stille. Man meint angesichts solch düsterer Vanitasmotive, die dem Betrachter die Schönheit des Untergangs nahe legen, eine alte deutsche Sehnsucht am Werk zu sehen. Der Wunsch der Romantik nach einem Karthago-Erlebnis, nach der eigenen Antikisierung: Endlich ist man selbst Ruine.

„Die Zerstörungen waren so ungeheuerlich“, schrieb der US-Soldat Leonard Linton in seinen Erinnerungen, „dass man kaum sehen konnte, wo eine Straße, ein Bürgersteig oder sonst etwas war. Alles war zerbombt, vom Krieg geschwärzter Bauschutt.“ Als die Westalliierten im Sommer 1945 in Berlin einzogen, waren sie vom Ausmaß der Verwüstung selbst schockiert. Auf Stadtrundfahrten zu den historischen Städten, zum Reichstag und zur Reichskanzlei, fanden sie nur ausgeweidete Hüllen vor. Und alle fotografierten dasselbe, wie eine sorgsam kuratierte Ausstellung über den „privaten Blick“ im Alliiertenmuseum veranschaulicht. Viele Soldaten klebten Postkarten aus früheren Tagen neben ihre Aufnahmen von kaputten Hotels und Straßenzügen. Binnen weniger Wochen wurden die Kämpfer zu Touristen, und das Brandenburger Tor war nur noch eine Sehenswürdigkeit.

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