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Kultur: Das böse Wort, es kam nicht vor

Die Branche steckt tatsächlich in der Krise. Beobachtungen bei der Kölner Musikmesse Popkomm

Von Esther Kogelboom

„Oh nein, ist der alt geworden“, sagt ein Mann, sichtlich verblüfft. Und ein anderer antwortet: „Guck dir das an, er ist schon ganz grau.“ Gemeint ist Ray Cokes, MTV-Moderator der ersten Stunde. Er betritt den Kleinen Rheinsaal des Kongresszentrum Köln, bahnt sich seinen Weg durch die Menge nach vorn. Dann reißt er ein paar ziemlich lausige Scherze, aber das macht nichts. Nach all den Panels, Kongressen, Messerundgängen, nach dem fettigen Essen vom Mittag und den Selbstversuchen mit diversen neuen Mixgetränken und Schnupftabak-Sorten ist der alte Ray Cokes die erste kühle Dusche auf der Popkomm 2002.

„I’m real“, singt Jennifer Lopez, und so ist es auch mit Cokes: Man glaubt ihm, weil er es ja wissen muss und vor allem, weil er echt ist – und verkaufen will er auch nichts. Der Verband der Musikclip-Produzenten hatte Cokes eingeladen, die Veranstaltung „Most unwanted Videos: Die besten Clips, die MTV und Viva nicht gezeigt haben“ zu moderieren. Eine kleine, hübsche, kurze Zusammenkunft, von deren Sorte es mehr hätte geben müssen, weil einige Male lauthals gelacht wurde und ein Wort nicht vorkam: Krise. Stattdessen gab es wirklich schlechtes, hochnotpeinliches Videomaterial zu sehen, das Ray Cokes treffend kommentierte.

Angst vor der Angst

So konzentriert-pointiert ging es selten zu auf dem Popkongress, der sich manches Mal mit fast schon rührender Verzweiflung bemühte, Trends aufzuspüren, und dabei in der Belanglosigkeit stecken blieb wie ein Offroader im Schlamm. Beispiel Timescout: Das ist eine Art Marktforschungsfirma, die den Musiksender Viva mit frischen Erhebungen aus der Kernzielgruppe versorgt. Timescout rief, und Smudo, Alexa Hennig von Lange, Dieter Gorny und Claus Strunz von „Bild am Sonntag“ kamen, um ein bisschen darüber zu reden, wie die Jugend so ticken könnte. Claus Strunz hat vor einem Jahr zum ersten Mal die „Viva BamS“ drucken lassen, ein buntes Heftchen mit sehr kurzen Geschichten über Popstars, das der „Bild am Sonntag“ beiliegt und in seiner aktuellen Ausgabe die Traum-Liebesbeziehung der Retortenband-Mitglieder Vanessa („No Angels“) und Giovanni („Bro’Sis“) aufdeckt.  Smudo, dessen Produktionsfirma „Four Music“ neulich von Stuttgart nach Berlin umgezogen ist, konnte die direkte Sitznähe zu Strunz auf dem Pop-Podium offenbar schlecht vertragen, jedenfalls rief er das Globalisierungsgegnertum als neuen Trend aus, und es sei die Angst, vor der sich alle fürchteten. Dann sei da noch die „Kraft der zwei Türme“, und wenn Smudo das sagt, klingt das fast, als sei das der Arbeitstitel einer neuen „Four Music“-Produktion.

Ruhe im Garten

Und das war auch schon die beste Szene der „Wie tickt die Jugend“-Gesprächsrunde – während im Messe-Dorf das Dauerlamento regierte. Es schien, als hätten die Aussteller dieses Jahr extra feine Lounges mit besonders bequemen Polstern installiert, damit der Tag mit dem schmerzhaften Nachhall der jüngsten Halbjahresbilanz möglichst glatt in die Partynacht übergehen kann. Motor Music zum Beispiel verzichtete ganz auf Musik, beschallte seine Besucher lediglich mit Vogelgezwitscher vom Band und ließ sie in perfekter Gartenatmosphäre in Liegestühlen ausruhen. Deutlich kleiner als im vergangenen Jahr war die Ausstellungsfläche, und 2001 war ja auch schon schlechte Stimmung.

Und was sagen die Entscheider der Branche? Einmal saßen sie alle offiziell gemeinsam auf dem Podium, Thomas M. Stein von BMG, Bernd Dopp von Warner Music, Tim Renner von Universal, Balthasar Schramm von Sony und Udo Lange von EMI, und schleuderten sich Umsatz- und Verkaufszahlen um die Ohren. Der „Kerntreiber“ der Misere, so war man sich einig, sei die unerlaubte Vervielfältigung des geistigen Eigentums anderer, also das Herunterladen von Musik aus dem Internet und das Klonen von CDs, das Brennen. „Copy kills music”, lautete der Titel einer eher wirkunsglosen Kampagne der Plattenindustrie, die versucht hatte, in das Bewusstsein der „Raubpiraten“ vorzudringen. 2001 sind mehr CDs gebrannt als verkauft worden. Aber, so die aufgeregten Stimmen aus dem Publikum, wenn etwas umsonst ist, wieso darf man es dann nicht nehmen? Und warum macht ihr nicht einfach die CDs billiger? Oder kümmert euch um besseren Kopierschutz? Und während Thomas M. Stein gereizt, fast schon unfreundlich reagierte, blieb Tim Renner moderat: „Jeder von uns hier oben wäre gern der Messias.“ Renner tat kurz vor Beginn der Popkomm einen entscheidenden Schritt nach vorn: Universal brachte eine Internet-Plattform ns „popfile.de“ an den Start, wo sich jeder für ein paar Euro Musikdateien kaufen kann, die jedoch mit einem digitalen Wasserzeichen vor unerlaubter Vervielfältigung geschützt sind. „Popfile ist nur ein Zwischenschritt, das darf man nicht vergessen“, meine Thomas M. Stein und erwähnte noch das neue Konzept der Two-Track-CD, die schon für den Preis einer Schachtel Zigaretten zu haben ist. Der erste digitale Tonträgern mit zwei Stücken („Meer sehen“ des Interpreten „Der Junge mit der Gitarre“) steht bereits in den Regalen der Händler.

Und Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelins sehnlichster Wunsch nach einer Quote für „Hits Made in Germany“ hat sich fast über Nacht von selbst erfüllt. Kein geringerer als Herbert Grönemeyer konnte den US-Rapper Eminem von Platz eins der deutschen Hitparade verdrängen – ein Chart-Einstieg wie aus dem Bilderbuch. Und wie singt Grönemeyer in seinem Titel „Mensch“? – „Es ist okay/ es tut gleichmäßig weh. Es ist Sonnenzeit.“ Na, dann. 

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