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Kultur: Das deutsche Gesicht

Mit der WM ist doch nicht alles vorbei: Nachwirkungen und Weckrufe

Wer sind wir, wenn wir uns heute abgeschminkt und ohne Trikot im Spiegel sehen, wenn wir aus der Fan-Fantastik wieder in der anderen Realität gelandet sind? So viele Jahre ist über die „Normalisierung“ Deutschlands geredet und geschrieben worden. Wollen aber Menschen mit aller Absicht normal (oder locker und lässig) sein, dann beweist das meist das Gegenteil. Das Gewollte wirkt krampfhaft, ist zwanghaft.

Die Pointe dieser schwarzrotgold gesäumten und zudem mit so vielen anderen Farben aufgemischten Weltmeisterschaft könnte nun sein: dass gerade der vierwöchige Ausnahmezustand dem Land eine für Nationen unseres Zuschnitts normale Identität beschert hat. Wir zeigen Flagge, Begeisterung, Stolz auf eine gut spielende Nationalmannschaft, wie es alle anderen auch tun. Was an sich noch nichts Neues ist.

Aber jeder spürt: Zwischen dem 9. Juni und dem 9. Juli 2006 ist noch etwas mehr passiert. Natürlich hat der Fußball durch die popkulturelle Aura der Akteure und die so noch nie erlebte Verwandlung des öffentlichen Raums in eine tausendfach vergrößerte Arena nochmals einen Bedeutungssprung getan. Begünstigt vom Spiel- und Wetterglück. Doch mit den Masken des Fests gehen nun nicht gleich die Gesichter ab. Sehen die Deutschen heute morgen in den Spiegel, dann erblicken sie womöglich eine Spur mehr Selbstvertrauen und Selbstverständnis – auch als Reflex der fast beispiellosen internationalen Anerkennung. Trotz aller Strahlkraft des Menschen und des klugen Mutprinzips Jürgen Klinsmann könnte sich das im privaten oder politischen Alltag schnell wieder verflüchtigen: Wenn es jenseits der euphorischen Überhöhung des Augenblicks nicht auch tiefere historische Energien gäbe.

Wir waren nämlich schon einmal fast so weit. Das war 1972 zur Zeit der Olympischen Spiele in München (und Kiel). Selbst das mörderische Attentat auf das israelische Team warf nur einen kurzen, schlimmen, aber für tausende Sportler und Millionen Zuschauer nicht tödlichen Schatten auf das ungewöhnlich schöne, sonnenbeglänzte Fest. Gefeiert wurde in jener Bundesrepublik, die den Dialog mit dem Osten, auch mit der DDR aufgenommen hatte, in der im Nachkriegsstaat ein frisch gekürter deutscher Friedensnobelpreisträger als Kanzler regierte. Ein Staat, der nicht nur wegen seiner Wirtschaft bewundert oder beneidet wurde. Sondern auch ein Land, dessen Liberalität und Weltoffenheit als vorbildlich galten. Das war ein Erfolg der westlichen Reeducation, der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, einer neuen Politik und dems Erwachsenwerdens einer neuen Generation. Es gab noch Ex- und Neonazis, aber zugleich sagten Israelis, auch nach dem Attentat, dass es für Juden außerhalb ihres eigenen Landes und der amerikanischen Küstenstädte kaum einen sichereren Ort in der Welt gebe, als die Bundesrepublik.

Daran muss man erinnern. Die Gespenster der Vergangenheit und alle seligen und unseligen Patriotismusdebatten, Leitkulturrunden, Fremdenfeindlichkeitsängste gehören und gehörten zum Preis der deutschen Einheit. Das war wohl unvermeidlich, weil die alte Bundesrepublik im Luxus des ökonomisch und touristisch internationalisierten Teilstaats mit eher unverbindlicher Identität und provisorisch provinzieller Hauptstadt lebte. Die Westdeutschen waren weiter gereist als die Ostverwandten. Aber mit leichterem Gepäck, in jeder Hinsicht. Und die Westdeutschen täuschten sich und ihre neuen alten Landsleute über die Kosten und Mühen der Einheit, von Anfang an.

1990, als der deutsche Westen kurz vor der Wiedervereinigung zum letzten Mal Weltmeister wurde, sprach Bundeskanzler Helmut Kohl von den legendär blühenden Landschaften. Und Bundestrainer Franz Beckenbauer verkündete, dass die deutsche Nationalmannschaft von nun an auf Jahre hinaus unschlagbar sei. Wir wissen, was dann passierte.

Kohls Enkelin im Kanzleramt wird es wohl nie zum Symbol der Einheit schaffen. Ihre ostdeutsche Herkunft wirkt so virtuell wie eine Jungfrauengeburt. Auch bei Michael Ballack, dem deutschen Mannschaftskapitän, scheint, seiner mundartlichen Färbung zum Trotz, die Abstammung aus Görlitz aus einer anderen Welt und Zeit herzurühren. Als befreiendes, die Wirtschaft, die Stimmung, das deutsche Selbstwertgefühl beflügelndes Momentum wurde vor der WM immerzu das „Wunder von Berlin“ beschworen. Das Wunder aber brauchte schon nach dem Sieg in letzter Minute über Polen keinen Pokal und Titel mehr. Das Wunder ist neben der Mannschaft eben doch der neue Zaubermann Jürgen Klinsmann.

Und der ist ganz anders, als wir und alle Welt sich gemeinhin einen teutonischen Magier vorstellen. Blond ist er zwar, aber den Effekt macht seine geniale Mischung aus Kalkül und Leidenschaft, Offensive und Optimismus, aus Konzept und unbeirrbarer Kühnheit. Doch auch der Schwabe Jürgen Klinsmann, der in der Weltpresse jetzt das Bild des intelligent souveränen, unauftrumpfend selbstbewussten Deutschen verkörpert, hat als neuer Erfolgstyp einen Vorläufer: Boris Becker. Auch der kam aus der Provinz, wurde im In- und Ausland zum Symbol gleichsam eines neuen, friedlich sportlichen Jungsiegfrieds. Gewiss egomaner (eher Olli Kahn), aber mit Wirkung weit übers Tennis hinaus; einer, den viele liebten, deutsch und weltläufig zugleich. Und mit dem Satz, dass Spiele oft im Kopf entschieden werden, hat er etwas gesagt, das für das Prinzip Klinsmann ebenso gilt.

Ausgerechnet der kalifornische Schwabe K. könnte nach allem Illusionsverlust und anderthalb Jahrzehnten Mühen auf allen Ebenen, in allen Höhen und Fallgruben der deutschen Einheit die erste unbestrittene, ungeteilte Identifikationsfigur des wiedervereinigten Landes werden. Ein sympathischer Kapitalist, der nicht mehr zur altbundesrepublikanischen Toskana-Fraktion gehört, sondern von weiter her einen kräftigen Südwestwind wehen lässt: den Sturmhauch des Aufbruchs, des besseren Lebens durch mehr Leistung, Mut und Motivation.

Gerhard Schröder und Joschka Fischer (Toskana-Fraktion . . .) haben die Deutschen in Ost und West mit ihrer Anti-Irakkriegspolitik geeint wie nichts außer der D-Mark zuvor. Ungeachtet der Wahlkampftaktik und einiger diplomatischer Ungeschicklichkeiten war da erstmals seit 1990 die deutsche Souveränität als Absage an eine falsche Politik Amerikas zu spüren. Das wird als nachwirkender Moment noch in die Geschichtsbücher eingehen. Und jetzt ist Jürgen Klinsmann gekommen und bringt ein anderes, ein Stück richtiges Amerika nach Deutschland. Den Pioniergeist.

Natürlich hat der Sport keinen direkten Einfluss auf die Politik. Aber weil das neue Deutschland bisher keinen hatte, der diesen für alle Reformen nötigen Geist verkörpert, ist die gewandelte Stimmung, ist die Spur in unserem eigenen Gesicht das erste, was bleibt. Ein paar Lachfältchen, ein paar Spannungskerben haben uns Klinsmann, Ballack & Co. verpasst. Als Hoffnungsschimmer.

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