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Kultur: Das Echo der Fledermaus

Philologie und Polyphonie: Eindrücke vom Berliner Walter-Benjamin-Festival

Von Gregor Dotzauer

Vielleicht ist er tatsächlich nur noch ein Gespenst. Denn die „Orte Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft“, die das Festival „NOW – Das Jetzt der Erkennbarkeit“ beschwört, entziehen sich, je näher man ihnen zu kommen versucht – theoretisch wie topografisch. Das Geburtshaus wie sein späteres Wohnhaus in der Prinzregentenstraße: verschwunden. Die Kaiser-Friedrich- Schule am Savignyplatz: vom Stadtplan getilgt wie fast alles, was die Kulisse seiner „Berliner Kindheit um 1900“ ausmacht, der er wunderbare Prosaminiaturen gewidmet hat. Und dass über sechzig Jahre nach seinem Freitod 1940 die versammelten Granden der Forschung, die jedes Komma seiner nachgelassenen „Thesen über den Begriff der Geschichte“ inhaliert haben, immer noch über deren Auslegung streiten können, spricht für die Unausdeutbarkeit seines Schreibens. Darin gibt zwar dunkle Stellen, aber auch eine Auffassung von Lektüre, die zum Beispiel für die Thora 49 Sinnstufen beansprucht, wie er in einem Brief an Max Rychner notiert.

„Walter Benjamin n’existe pas“, dekretierte Sigrid Weigel, die Tagungsleiterin und Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, gleich zur Eröffnung des Festivals. Akademisch bekämpft man solche Absencen mit dem Reden von der „Spur“. Praktisch rückt man ihnen noch bis zum Sonntag mit sechs Tagen Geisterstunde fast rund um die Uhr zwischen Staatsoper und Akademie der Wissenschaften zu Leibe: mit einer Tagung in zwölf Sektionen, mit Lectures, Filmen, Ausstellungen im Hamburger Bahnhof und in der Akademie der Künste, Performances, Lesungen – und sogar einem Musiktheater nach Monteverdi. Es soll schon Gespenster gegeben haben, die von so viel Kettenrasseln wieder lebendig geworden sind. Und war nicht der schnurrbärtige Tagungsgast im Trenchcoat mit dem sich grau gen Himmel wölbenden Haar ein schmal gewordener Wiedergänger Benjamins?

„Ich versuche mal, etwas Polyphones zu machen“, erklärte der Konzeptkünstler Jochen Gerz in seiner Lecture. Das war aber nicht mehr als ein Euphemismus für einen zerfaserten, sich von eigener bildhauerischer Inszenierung zu Inszenierung hangelnden Beitrag über die unaufhaltbare Ästhetisierung der Alltagswirklichkeit, die der Kunst ihre Andersartigkeit genommen habe. Geschichte als Thema und Antifaschismus als Auftrag sind dann doch etwas zu allgemeine Kriterien, um eine Beziehung zu Benjamin herzustellen. Und was die Entwertung des Kunstanderen betrifft, so droht sie im Rahmen eines solchen Festivals auch dem spezifischen Gewicht von Benjamins Schriften. Zwischen ihrer hemmungslosen Popularisierung und der unaufhebbaren Verstiegenheit vieler Gedankengänge besteht ein Widerspruch, der sich nur zugunsten der Kontemplation auflösen lässt.

Wo Gerz noch eine offene Affinität zu Benjamin beanspruchen konnte, da wurde die Verbindung anderer LectureKünstler zum Gegenstand zusehends fragwürdig. Bei Thomas Struth, einem gewiss großartigen Fotografen aus der Becher-Schule, bestand sie in der Erinnerung an ein Philosophikum, in dessen Rahmen er sich mit den Geschichtsthesen beschäftigt hatte – und seinem offenkundigen Interesse für städtische Räume. Der finnische Fotograf Miklos Gaál, mit seinen bewussten Unschärfen ein nicht minder faszinierender Künstler, hätte höchstens seine Aufmerksamkeit für vermeintlich unscheinbare Details ins Feld führen können. Bei dem südafrikanischen Performance- und Animationskünstler Robin Rhode, der mit dem Mikrofon in der Hand vor dem Publikum hin- und hertigerte und seine Kreidearbeiten erklärte, kann es nur der Appeal von etwas wahnsinnig Jugendlichem gewesen sein, der die Kuratorin Sabine Flach dazu brachte, ihn einzuladen.

Wenn alles geht, dann hätte man sich gleich mit der Rolle des dialektischen Bilds bei den Simpsons beschäftigen können. Dann lieber die Mühen der philologischen Ebenen mit teils brillanten Vorträgen: etwa dem der in São Paulo lehrenden Philosophin Jeanne-Marie Gagnebin, die Benjamin vor befreiungstheologischen Interpretationen in Schutz nahm, wie sie heute in Lateinamerika gang und gäbe sind. Es helfe sehr, argumentierte sie, bei Benjamin zwischen Religion und Theologie zu unterscheiden, ja die Theologie zum Kampfbegriff gegen den Glauben zu erklären. Glaube als solcher bilde die Vorform jedes Fundamentalismus. Die Theologie gehöre aber zu einem paradoxen Logos, der davon lebt, dass er sich um etwas Abwesendes herum konstituiert. Benjamin habe nie davon geträumt, alle religiösen und sozialistischen Kräfte für die große Revolution zu vereinen. Bei ihm sei alles gegen falsche Gewissheiten gerichtet, und er habe so spielerisch wie ernsthaft theologische Bilder benutzt, um die Unergründlichkeit des Profanen zwischen Dogmatismus und Relativismus darzustellen.

Den Preis für die höchste Kongenialität in Sachen Benjamin hätte aber Alexander Kluge erhalten müssen. Nicht nur als ehemaliger Hausjurist und „poetischer Hilfsgärtner“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hat er eine staunenswerte Nähe zur Montagelust dieses Denkens entwickelt. Als Assoziationsakrobat führt er es von der Hirnforschung bis zur Stringtheorie in Gebiete, von denen Benjamin noch nichts wissen konnte. Das Fallen des Herbstlaubs, das die Erdrotation beschleunigt, und das Sprießen der Frühlingsknospen, das sie wieder verlangsamt; die schwarze Energie, aus der siebzig Prozent des Kosmos bestehen und die ein unvorstellbares Reservoir unsichtbarer Bilder bereithält; die Planck-Länge, auf der Außerirdische vermutlich unseren Planeten betreten würden: Nichts erscheint ihm zu weit hergeholt, als dass er es nicht mit vernünftigen Gründen unterfüttern könnte.

Benjamin, sagt Kluge, „hat den Charakter einer Fledermaus. Sie hört nicht die Klänge, die sie aussendet, sondern das Echo der Dinge, das sie im Dunklen ereilt. Fledermaus sein ist die Kraft des Poeten.“ Klingt wie eine Selbstbeschreibung.

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