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Kultur: Das Ei und der Hunne

Wie faschistisch ist ein Napfkuchen? Die Künstlerin Ulrike Grossarth verblüfft mit Analogien

Heute morgen war Ulrike Grossarth einkaufen. Nun steht sie im Ausstellungsraum im Hamburger Bahnhof und lässt das Desaster noch einmal Revue passieren. In der Hand hält sie ein undefinierbares Etwas in pastelligem Apricot, das aussieht wie ein halbiertes, leicht gestauchtes Ei. „Jetzt schauen sie sich das mal an“, sagt die Künstlerin und klingt für einen Moment ernsthaft verstimmt. „Diese Farbe, die gab es doch vor zwanzig Jahren noch nicht, oder?“ Zum Beweis legt sie das halbe orangerosa Ei zu den übrigen ungefähr hundert Gegenständen auf den Tisch, die alle aus den achtziger und frühen neunziger Jahren stammen. Tatsächlich, sofort fällt auf, dass hier einige Dinge offensichtlich nicht zueinander passen: das Design, generell die Ästhetik.

Man könnte meinen, das wäre vielleicht nicht so schlimm, bei der Menge an unterschiedlichen Waren, Verpackungen, Gütern des alltäglichen Gebrauchs, die sie für ihre Installation „Bau I“ verwendet hat. Einerseits. Andererseits: Wenn es um ihre Kunst geht, ist Ulrike Grossarth Perfektionistin, für die alles mit allem zusammenhängt. Nichts soll hervorstechen aus dieser seltsamen Ansammlung, nichts stören bei der Verwandlung der Keksschachteln, Bonbondosen und anderem Krimskrams in pure Formen und Körper, in, so Grossarth, „reine physische Präsenz“ – was im Übrigen auch für die bewegten Bilder gilt, die die Projektoren als Lichtquellen an die Wand werfen und die ebenfalls zum Ensemble von „Bau I“ gehören.

Deswegen müssen selbst die kleinsten Details beachtet werden, und sei es die leichte Abweichung eines Farbtons unter unzähligen anderen. So lässt sich auch der Panikkauf erklären. Als sich Ulrike Grossarth an die Einrichtung ihrer aktuellen Ausstellung im Hamburger Bahnhof machte, stellte sie fest, dass Teile von „Bau I“ lädiert von einer Ausstellung zurückgekommen waren. Für die musste Ersatz beschafft werden. Ein Fall für die Versicherung, der das an sich stabile Nervenkostüm der Künstlerin doch ziemlich angegriffen hat.

„Bau I“ ist nicht irgendeine Arbeit im Gesamtwerk von Ulrike Grossarth. Es ist die Installation, mit der sie schlagartig beim breiten Publikum bekannt wurde, damals auf der Documenta X 1997 in Kassel. Und wie so oft war auch für sie die Teilnahme an der international renommierten Großausstellung der Durchbruch in ihrer Karriere. Kurz darauf erhielt sie einen Ruf an die Dresdner Kunstakademie, dort, wo die ausgebildete Tänzerin bereits Mitte der siebziger Jahre Sommerkurse bei der großen Gret Paluca belegt hatte (wodurch sich für sie wieder einmal ein Kreis schloss). Seitdem ist sie Professorin, die ihre Lehre mit sichtbarer Begeisterung betreibt, ihren Schülern aber auch viel abverlangt.

Nächtliche Wanderungen, längere gemeinsame Reisen, Selbsterfahrungsübungen der verschiedensten Art zählen für sie unabdingbar zur künstlerischen Ausbildung. Ihre Studentinnen und Studenten will sie dadurch dazu befähigen, „das Eigene“ in sich wahrzunehmen. Ein Ausdruck, den man in ihrer Gegenwart tunlichst nicht mit so etwas Banalem wie dem Individuellen verwechseln sollte. „Das Individuelle ist ein Konzept, das einen Gegenpol bildet zum Massenhaften“, sagt Grossarth. „Das Eigene dagegen wird nicht nur durch Äußerlichkeiten behauptet, sondern aus dem Inneren geschaffen.“

Die Vorstellung, dass man zuerst zivilisatorischen Ballast abwerfen muss, um zum eigentlichen Kern einer Sache vorzudringen, erinnert nicht zufällig an einen der einflussreichsten deutschen Künstler der Nachkriegszeit. Gemeinsam mit ihrem Freund und späteren Galeristen, dem vor fünf Jahren verstorbenen Rainer Borgemeister, gründete sie Anfang der achtziger Jahre in Essen eine Zweigstelle der FIU, der „Freien Internationalen Universität“, welche Joseph Beuys 1977 auf der Documenta VII ins Leben gerufen hatte. Anliegen der FIU war, eine Art permanente Konferenz zu etablieren mit dem Ziel, durch den steten Fluss an neuen Beiträgen an einem universellen Gestaltungsbegriff zu arbeiten, der sämtliche Lebens- und Arbeitsfelder des Menschen einbezieht. Und so sind die meisten ihrer Werke als Ergebnisse über Jahre andauernder Prozesse entstanden. „Das Entscheidende dabei ist“, sagt Grossarth, während sie das rosa Ei immer noch in der Hand hält, „das eigene Bewusstsein zu entwickeln und nicht alles als gegeben vorauszusetzen“.

In einem ihrer jüngsten Werke stellt sich das so dar: Der Betrachter blickt durch Gucklöcher in der Wand in einem dunklen Raum, an dessen Rückwand ein Videofilm läuft. Drei Akteure in Prunkgewändern schieben mit langen, dünnen Stäben unablässig geometrische Gegenstände hin und her. Die Szenerie wirkt wie ein physisches Mantra, eine Aktion gewordene Meditation. Die absichtsvolle Sinnlosigkeit der Handlung, die Bewegung der Gegenstände, ihre Abstände zueinander, der Abstand vom Betrachter zur Leinwand, all dies beginnt plötzlich eine Rolle zu spielen.

Dass das insgesamt nicht allzu sehr ins Esoterische abdriftet, dafür sorgt die 1952 in Oberhausen geborene Künstlerin schon selbst. Denn mitunter gelangt sie bei ihren künstlerischen Welterforschungen zu recht handfesten Resultaten. In ihrer Ausstellung im Hamburger Bahnhof werden rund ein Dutzend großer Installationen der vergangenen zwanzig Jahre gezeigt, darunter auch die Arbeit „Mohn – (backen und bauen)“. Darin hat Grossarth die Analogien von kleinbürgerlicher Heimeligkeit und verbrecherischer Großmannssucht während der NS-Diktatur untersucht. Wenn innerhalb einer Struktur jede Einzelheit Eigenschaften des übergeordneten Ganzen aufweist: Warum sollte man dann nicht auch in Albert Speers großer Halle für Germania Parallelen zu einem Napfkuchen entdecken? Der Geist, der dahinter steht, sagt Grossarth, ist derselbe.

Und es ist merkwürdig, je länger man hinschaut, desto mehr ähneln sich auch die Formen. Die größte Errungenschaft der Nazi-Architektur: ein Gugelhupf. Das rosa Ei hat Ulrike Grossarth inzwischen beiseite gelegt. Wahrscheinlich taucht es irgendwann in einem ihrer Werke wieder auf.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 51, Werkraum, bis 5. März, Di-Fr 10–18 Uhr, Sa 11–20 Uhr, So 11–18 Uhr.

Ulrich Clewing

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