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Kultur: Das Ende der heiligen Nadel

Bevor die Computerindustrie Musik nur noch für die tragbare Festplatte verkauft: eine kleine Kulturgeschichte des Plattenladens

Der Klang der anderen Welt kam aus zwei Bakelithörern beim Rundfunk- und Fernsehfachgeschäft. Irgendwo in der westdeutschen Provinz, irgendwann in den Siebzigerjahren, vor Markteinführung der CD. Die reale Welt sah aus wie eine Fußgängerzone mit Waschbetonkübeln. Die andere Welt bestand aus Gitarrenriffs, Schreien, Schlagzeugeinsätzen. Sie klangen nicht nach Hausaufgaben. Sie klangen nach Aufruhr und wildem, gefährlichem Leben.

Die Hörer steckten mit ihren gewebeummantelten Kabeln im Resopal-Tresen. Man musste sie herausziehen und einzeln ans Ohr pressen, während der Mann hinterm Tresen erst die Platte aus ihrer Plastikschutzhülle zog und mit einem Zentrierstück auf den Teller legte, dann den Saphir und schließlich die Platte selbst von Staub befreite. Ein Moment der Andacht, dann kam aus den Hörern ein trockenes Knacken. Die heilige Nadel war endlich in der heiligen Rille.

Äußerlich nahezu regungslos, mit den Ellbogen auf den Tresen gestützt, wurde ordnungsgemäß die erste Seite abgehört – und dann die zweite. Erst Singles, später LPs. In voller Länge. Etwa in Telefonqualität. Jede Kaufentscheidung wollte wohl abgewogen sein. 14,90 DM kostete eine LP. Mehr als zwei pro Monat waren auch nach erbitterten Taschengeldverhandlungen nicht drin. Der Verkäufer, Anfang 20, Oberlippenbart, Fönfrisur, verzog keine Miene. Er wusste: Die Jungs, die mindestens einmal die Woche auf ihren Bonanza-Rädern zu seinem Laden ritten und meist zu laut redeten, weil sie vergaßen, dass sie die Hörer an ihren roten Ohren hatten, während sie die Vorzüge von The Sweet gegen Uriah Heep gegen Pink Floyd und Tangerine Dream diskutierten – sie würden allesamt echte Vinyl-Junkies werden mit, im Endstadium, tonnenschwerer Plattensammlung. Es existierte ein Urvertrauen zwischen den Dealern auf der einen und den Abhängigen auf der anderen Seite.

25 Jahre später: Alben sind mindestens doppelt so teuer. Musik ist von der Entstehung bis zum Endprodukt eine Frage der Datenverarbeitung. Platten werden notfalls auf einem Aldi-Rechner produziert, das Volk kopiert CDs, dass die Brenner rauchen. Manche Abende in den Clubs der großen Städte erinnern an Informatikseminare, mit ein paar Leuten vor Laptops: Es sind die Künstler.

Die Musikindustrie? Ist auf dem besten Weg, sich den Fan zum Feind zu machen, weil sie vor jedem Computer einen Urheberechtsverletzer wähnt. Doch bald, hoffen die Konzerne, haben sie die Lage wieder im Griff. Dann werden sie nur noch Daten verkaufen. Sauber und durch Signaturen zum Käufer zuzuordnen. Bald sollen, so heißt es in den Wirtschaftsteilen, Plattenläden und überhaupt Schallplatten – ob analog oder digital – ohnehin verschwinden. Dann wohnt Big Brother auch in deiner Sammlung.

Steve Jobs, Chef des Computerherstellers Apple, ist etwas gelungen, wovon die Musikindustrie seit langem träumt: Er verkauft Musik im Internet. Massenhaft. Mit einem radikal kundenfreundlichen Konzept, das nichts gemein hat mit hilflosen Online-Versuchen der Unterhaltungskonzerne oder ihren Attacken, etwa Studenten in Princeton auf 98 Milliarden Dollar Schadenersatz zu verklagen.

Nachdem es Jobs gelungen ist, in nur einem Monat drei Millionen legaler Downloads zu verkaufen, rückt das Ende der CD, nach nun eben 25 Jahren, allmählich näher. Bei einer Online-Umfrage der Fachzeitschrift „Musikwoche“ glauben nur rund 50 Prozent der Händler und Branchenleute daran, dass in Zukunft Platz für beide Varianten – digital als Datei und physisch als Produkt – sein wird. Speichern, kopieren, brennen. So soll in Zukunft der Musikkauf vonstatten gehen. Die gesamte Kultur drumherum? Sozialromantik.

Seit Jahren klagt die Unterhaltungsindustrie über die schlimmen Umsatzeinbrüche, das schlimme Internet, die schlimmen Raubkopien, die schlimmen CD-Brenner. Unterfüttert mit Hundertmillionen-Zahlen. Kein Wort von der Sehnsucht nach der anderen Welt. Statt dessen Manager, die sich während der Musikmesse Midem in Cannes zum Golfturnier treffen: Damit sie weiter ihre Bälle schaukeln können, sollen wir nach 30 Sekunden Probehören eine Kaufentscheidung fällen. So wie wir das auch schon von „Amazon“ kennen, wo man auf einen Button klickt, und am nächsten Tag kommt der Postbote. Oder von den Musikkaufhäusern, in denen man den CD-Strichcode unter einen Scanner hält, um dann von einem Zentralrechner für 30 Sekunden eine niedrigst aufgelöste MP-Datei zu hören, die dem alten Sound der Bakelithörer auffallend ähnelt.

30 Sekunden. In vielen Stücken ist da noch nicht einmal der erste Akkord erklungen. Der routinierte Hörer zappt natürlich über das Intro weg, so wie DJs beim Plattenkaufen immer einen Finger am Tonarm haben. Wie geschmackvoll sind die Samples, wann kommt der Beat? Nervt das Stück sofort mit einer penetranten Hookline? Der routinierte Hörer ist längst selbst zum Musikscanner geworden, der in Sekundenbruchteilen die Oberflächenreize abtastet. Aber der Plattenladen ist noch immer sein Biotop.

Es gab Zeiten, da mussten Menschen beim Betreten eines Plattenladens Schmach befürchten, allein, weil sie die falsche Tüte dabei hatten (die richtigen Tüten, die von den richtigen Läden, wurden in Ehren gehalten wie ein Kommunionsanzug). Oder sie waren Normalsterbliche, ahnungslose Opfer wie jener Kunde, der in Nick Hornbys verfilmtem Roman „High Fidelity“ nach einer (falschen) Platte von Stevie Wonder fragt: „I Just Called To Say I Love You“. Der Verkäufer verweigert sie ihm, „weil es sentimentaler, geschmackloser Schrott ist. Und jetzt raus mit Ihnen. Stehlen Sie uns nicht unsere Zeit!“

Bei „Championship Vinyl“, so der Name des Ladens, wiederholen sich mikrokosmisch viele Abläufe, die jeder Musikfreund kennt: Junge Männer – nur Männer – mit Brillen, Lederjacken und quadratischen Einkaufstüten suchen nach obskuren Platten. Die Verkäufer haben den Durchblick gepachtet. Das lassen sie jeden spüren. Ihr Revier besteht aus Erbsenzählerei, Rechthaberei, Vereinsmeierei. Rob, der Protagonist und Inhaber, philosophiert über Ordnungssysteme für seine Sammlung, während er eigentlich sein Leben in Ordnung bringen sollte. Das ganze pseudo-coole, pubertäre Getue ist äußerst lebensnah eingefangen. Wer das nicht glaubt, gehe mal in einen Second-Hand-Plattenladen, in dem gerade ein echter Rocker bedient und höre sich über den einzigen Plattenspieler, der nur über Lautsprecher funktioniert, eine Cool-Jazz-Aufnahme an. Zu Punk-Zeiten gab es Pöbeleien, wenn jemand nach Madonna fragte. Nur wenn das Personal gerade sehr gute Laune hatte, wurde er ans nächste Kaufhaus verwiesen.

Noch heute gibt es Reggae- und HipHop- Läden, wo einem von den Bässen die Hosenbeine flattern. Läden, die nach abgestandenem Rauch riechen, eng und vollgestopft. Das sind keine Läden für Leute, die 7500 Songs in Kompress-Qualität auf eine tragbare Festplatte packen, wie Apple und viele andere Hersteller sie anbieten. Wer so Musik hört, der sortiert seine Phil Collins-CDs chronologisch. Wer so Musik hört, der kann sich seine CDs auch im Fitnessstudio kaufen.

Plattenläden waren immer Nischen, deren Bewohner sich gegen den Rest der Welt verschanzten. Mittlerweile aber gibt es auch die modernen, weltoffenen Varianten: Man streift durch einen riesigen Freihandbestand, legt seine CD selbst in den Player, kann nach Belieben vor- und zurückspringen. Manche Händler verleihen sogar CD-Walkmen, mit denen man während des Hörens weiter im Sortiment lustwandeln kann. Die Verkäufer, überwiegend erwachsene Musik-Junkies, sind zuweilen beschlagen wie Bibliothekare. Machen Sie mal im Laden Ihres Vertrauens den Test. Fragen Sie nach „Gonzalo Martinez and His Thinking Congas“. Oder summen Sie eine beliebige Melodie, mit leichten Verfremdungen. Die Antwort dürfte ein guter Gradmesser sein. Bei Steve Jobs jedenfalls werden Sie sie nicht bekommen.

Mit der Schallplatte sind verschiedene unausrottbare Kulturtechniken verbunden. Bevor alles vorbei ist, besuchen Sie die legendären Plattenläden dieses Planeten: „Amoeba“ in San Francisco, die Läden um die Portobello Road und den Camden Market in London, den alten Saturn in Köln oder die Jazz-Abteilung bei Beck in München. Dann können Sie in 25 Jahren Ihren Enkeln davon erzählen.

Ralph Geisenhanslüke

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