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Kultur: Das feste Haus

Risse im Beton, regnende Backsteine – Pfusch am Bau gab es immer. Wie solide planen die Architekten von heute?

Was hat Meinhard von Gerkan nicht alles an hämischen Schlagzeilen ertragen müssen, als sich im Januar am Berliner Hauptbahnhof während des Orkans „Kyrill“ zwei Stahlträger selbstständig machten und einer davon herabstürzte. Ähnlich irritiert zeigte sich die Öffentlichkeit, als sich kürzlich in den Betonstelen von Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal Haarrisse zeigten: Es war doch erst vor zwei Jahren fertiggestellt worden! Beherrschen die Architekten von heute – anders als ihre Kollegen in der Vergangenheit – ihr Handwerk etwa nicht mehr? Um es gleich zu sagen: Einstürzende Neubauten gab es schon immer. Und Klagen über Baumängel sind so alt wie die Baukunst.

Als der römische Traktatschreiber Vitruv vor zwei Jahrtausenden seine „Zehn Bücher über Architektur“ zu Papier brachte, postulierte er darin den ewiggültigen Dreiklang der Baukunst: firmitas, utilitas und venustas. „Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut“ übersetzte Curt Fensterbusch 1964. Letztlich handelt es sich also um die drei Aspekte Konstruktion, Funktion und Form, nach denen heute jede Architektur beurteilt wird. „Auf Festigkeit wird Rücksicht genommen sein“, führt Vitruv weiter aus, „wenn die Einsenkung der Fundamente bis zum festen Untergrund reicht und die Baustoffe, welcher Art sie auch seien, sorgfältig und ohne Knauserei ausgesucht werden …“

Hätte nur Andreas Schlüter seinen Vitruv aufmerksam gelesen. Als er nämlich am Berliner Schloss den Münzturm auf 300 Fuß erhöhte, achtete er zu wenig auf die Tragfähigkeit des trügerischen Bodens der sumpfigen Spreeinsel und gründete nicht bis zum festen Untergrund. All seine Versuche, den sich bedrohlich neigenden Münzturm anzuketten und zu retten, schlugen fehl. Um die Schande in Grenzen zu halten, trug Schlüter den Turm 1708 selbst wieder ab, doch war er als Schlossbaumeister nicht mehr zu halten. Er verlor seinen Posten an Johann Friedrich von Eosander, blieb allerdings Hofbildhauer und Baudirektor.

Nicht immer verfuhr man mit gescheiterten Architekten so nachsichtig wie König Friedrich I. mit Schlüter. 1734, als der neu erbaute Turm der Petrikirche einstürzte, wurde der Baumeister Johann Friedrich Grael kurzerhand ins Gefängnis geworfen und später ausgewiesen. Nicht besser ging es zahlreichen Werkmeistern in der Zeit der Gotik, als es galt, die Kirchenschiffe immer schlanker und gewagter in die Höhe zu treiben und zahlreiche Gewölbe einstürzten. So wurde Matthäus Beblinger von den Ulmer Bürgern aus der Stadt gejagt, als beim Bau des Ulmer Münsters Risse auftraten.

Solange die Menschen größer und höher bauten, hat es spektakuläre Einstürze gegeben, aber auch Pfusch am Bau. Auf die Barockzeit sind die Denkmalpfleger zum Beispiel generell nicht gut zu sprechen. Hastiges Bauen für repräsentationssüchtige Fürsten war die Regel, Eichenholz war kaum mehr zu haben, Steinfassaden waren unmodern.Und so haben die Bauleute oft nachlässige Konstruktionen aus billigem Holz hinter prächtigem Stuck und viel Tünche verborgen. Als in Stuttgart Ende der siebziger Jahre das Rokoko-Lustschloss Solitude gründlich saniert wurde, mussten die Denkmalpfleger feststellen, dass das Holzfachwerk hinter der Wandfarbe aufgrund mangelhafter Bautechnik weitgehend verfault war. Pfusch am Bau ist keine Errungenschaft unserer Zeit.

Niemand ist zuständig

Damals wie heute werden gerne die Architekten für Bauschäden verantwortlich gemacht. Doch während in früheren Jahrhunderten der Architekt tatsächlich der alleinige Verantwortungsträger gewesen ist, haben sich die Zuständigkeiten am Bau inzwischen atomisiert. Die Ursache für den Absturz der Stahlträger am Hauptbahnhof ist selbst unter Technikern noch immer nicht geklärt. Die Schuld scheint irgendwo im Verantwortungsbereich von Ingenieuren, Stahlbaufirmen, Bauleitung und der Bauverwaltung der Bahn zu liegen, jedenfalls nicht beim Architekten Meinhard von Gerkan. In anderen Fällen wird ähnlich vorschnell geurteilt. Wenn im Keller der Akademie das Wasser steht: Günter Behnisch hat schlecht geplant. Wenn an den Galeries Lafayette die Glasscheiben zerbröseln: Jean Nouvel hat nicht aufgepasst. Wenn am Hochhaus Potsdamer Platz 1 an der Backsteinfassade hundert Jahre früher als erwartet die Erosion überhandnimmt, wird natürlich auf Hans Kollhoff mit dem Finger gezeigt. Und auch bei den Stelen des Holocaust-Mahnmals ist klar: Es war Peter Eisenman, der schlecht gebaut hat.

Die Aufzählungen lassen in der Tat den Eindruck aufkommen, heutzutage werde immer schlampiger konstruiert. Aber es war schon immer so, dass etwa die Einführung neuer Bauweisen und Bautechniken mit Anfangsschwierigkeiten verbunden ist. Als die Stuttgarter Weißenhofsiedlung 1926 von den Avantgardearchitekten mit unerprobten neuen Verfahrensweisen und Materialien, Flachdächern, Torfoleumdämmtafeln, Bimsbetonwänden und Stahlskeletten errichtet wurde und prompt schon kurze Zeit später gravierende Schäden auftraten, wurden Le Corbusier, Gropius, Mies und Co. von den Konservativen mit Hohn und Spott überzogen. Heute ist das damals als „orientalisch“ verteufelte Flachdach längst der Normalfall. Und es ist nicht häufiger undicht als das Steildach.

Durch Korrosion hässlich aufplatzender Beton, faulende Dämmschichten und schimmelnde Innenwände sind Probleme veränderter Bautechnik, die man inzwischen zu vermeiden weiß. Doch immer wieder treten neue Probleme bei neuen Verfahren auf. So wurde erst durch platzende Scheiben an Strukturglaskonstruktionen, also Fassaden, bei denen die Scheiben nicht in Rahmen eingesetzt sind, sondern an wenigen Punkten montiert sind und sich selbst zu tragen haben, deutlich, dass bei der Produktion der Scheiben große Sorgfalt auf die chemische Zusammensetzung des Glases verwandt werden muss. Andernfalls droht die Scheibe zu brechen.

Blasen im Beton

Auch der scheinbar so einfach zusammenzurührende und zu vergießende Beton verlangt Sorgfalt, wenn er dauerhaft sein soll: Die Bewehrungseisen müssen zwei Zentimeter Betonüberdeckung haben, sonst rosten sie und sprengen die Oberfläche ab. Beim Füllen muss ordentlich gerüttelt werden, sonst gibt es Blasen. Und die Mischung muss stimmen, sonst ist der Beton nicht wasserdicht, wird frostempfindlich und bekommt Risse.

Es gilt jedoch deutlich zu unterscheiden zwischen sicherheitsrelevanten Baumängeln und billigen, nicht nachhaltigen Bauweisen, deren Folgen lediglich wirtschaftlicher Natur sind. Ein Haus, bei dem an der falschen Stelle gespart wurde (eigentlich immer auf Geheiß des Investors), wird rasch hässlich, wird vielleicht nach zwei Jahrzehnten abbruchreif sein oder kostet die Mieter ungebührlich viel Betriebskosten. Es mag ein Schandfleck und ein allgemeines Ärgernis sein, einstürzen wird es deshalb noch lange nicht. Und was die Sicherheit betrifft: Die strengen Auflagen hierzulande bringen es mit sich, dass für neue Baumaterialien und -techniken ein „Einzelnachweis“ für die Stand- und Brandsicherheit durch die Materialprüfanstalten erbracht werden muss. Prüfstatiker, die alles noch mal nachrechnen, und die Bauaufsicht sorgen dafür, dass Probleme gar nicht erst auftreten, die anderswo an der Tagesordnung sind.

Man muss Deutschland nicht allzu weit verlassen, um in Regionen zu gelangen, in denen täglich Gebäude einstürzen, ohne großes Aufsehen zu erregen. So weit wird es hier nie kommen können. Das feste Haus ist hier die Regel.

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