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Kultur: Das Geisterhaus

Peter Schneider wird 65 und schreibt „Skylla“: einen Roman zwischen Mythos und Gegenwart

Peter Schneiders neuer Roman „Skylla“ spielt mit dem Trügerischen. Ein Vexierspiel, aber mit offenen Karten, das macht die Geschichte so vertrackt wie spannend. Gleich auf der ersten Seite nennt der Ich-Erzähler Leo Brenner „die übliche Enttäuschung des Wunsches durch seine Erfüllung“. Ein schönes Bild für einen Deutschen, einen Berliner Scheidungsanwalt, der mit seiner Frau, um ihr Glück zu befestigen, ein Haus in Italien baut.

Brenner geht über den Brenner. Die Italienreise, die deutsche Südenssehnsucht hat der heute vor 65 Jahren in Lübeck geborene Berliner Schriftsteller Peter Schneider schon vor drei Jahrzehnten als Motiv genutzt. Lenz, die Titelfigur seiner Debüt-Erzählung, kam bei jener ersten Reise freilich von Büchner und nicht von Goethe her. Schneiders Lenz war ein psychischer Grenzgänger im 68er-Milieu und sein Italien-Glück flüchtig.

Auch bei Leo brennt das Feuer der Revolte noch nach. Doch gleichsam in der Asche. Im Untergrund des Romans, der vom Untergründigen erst einmal auf anderer Ebene handelt. Leos aus Polen stammende Frau Lucynna war Archäologin, hatte den Beruf jedoch nach der Trennung von einem früheren Mann (und Archäologen) und der Geburt ihrer und Leos Tochter an den Mutternagel gehängt. Als ein Toskana-Urlaub im kalten, verregneten Mai abgebrochen wird, verschlägt es Leo mit Frau und Kind an einen ungenannten Ort in Latium: aufs Land am Meer, irgendwo zwischen Rom und Neapel. Und sie kaufen, betört von Schönheit und Einsamkeit einen Hügel mit Fernsicht bis Capri. Mit einer windigen, italientypischen Baugenehmigung.

Das ist die Oberfläche der Geschichte. Deutsche Liebhaber sind in ihr bäuerlich archaisches Traumland geraten, wo auch Mördergruben Herzen machen. Und weil dieser Leo kein Baulöwe ist, fällt er als Bau- und Bauernopfer erst einmal in alle Gruben. Das liest sich an der Oberfläche wie ein unterhaltsamer Reiseroman.

Doch die Tücke des Objekts steckt in der Tiefe. Das Haus auf dem Hügel wächst auf mythischem Grund. Und da kommt die Archäologie ins Spiel, gefolgt vom Ehekrieg. In der Nähe liegt eine riesige Meeresgrotte, die zu einem Palast des römischen Kaisers Tiberius gehörte. Tiberius, unter dessen Regentschaft Jesus von Nazareth gekreuzigt wurde, war in jeder Hinsicht ein Dunkelmann. Von Furunkeln entstellt, von Gelüsten nach immer jüngeren Männern, Frauen, Kindern getrieben, hauste er mit seiner Gefolgschaft grausam und geil im Verborgenen. Fern von Rom, am Meer, in Grotten am südlichen Festland oder auf Capri soll er Wasserorgien gefeiert und Blutbäder angerichtet haben.

Ruinen aus der Zeit des 1. Jahrhunderts sind womöglich auch in Leos und Lucynnas Baugrund verborgen. Der deutsche Rechtsanwalt, den nur die Gegenwart und Zukunft interessiert, lässt die Hohlräume der Vergangenheit sicherheitshalber mit Beton versiegeln. Die Frau aber gräbt nahe der Fundamente ein fatales Mosaik aus: Es zeigt das weibliche Meeresungeheuer Skylla, dem einst Odysseus, auf der Irrfahrt nach dem trojanischen Krieg nur mit Mühe entkam.

Lucynna packt nun wieder ihre archäologische Passion. Zwar wird das Mosaik gestohlen, doch die Forscherin in den Fundamenten wird gleichsam zur Fundamentalistin des Mythos und verwandelt sich in einer Liebesnacht mit ihrem Mann halb wahnsinnig in eine Skylla. Das Ungeheuer mordete mit tollwütigen Hunden, die aus ihrem Leib wuchsen. Auch Lucynna beginnt plötzlich zu bellen und ihren Mann mit gefletschten Zähnen anzufallen. Schneider lässt dabei offen, was Halluzination, was Wirklichkeit ist.

Tatsächlich gibt es im süditalienischen Latium eine reale Tiberius-Grotte, beim Hafenstädtchen Sperlonga. Wohl durch ein Erdbeben während einem der tiberischen Trink- und Sexgelage war dort ein Teil der Decke eingebrochen, der Kaiser überlebte und floh, doch die herabstürzenden Steine zerschlugen ein antikes Skulpturen-Theater, das schon für Tiberius eine mehr als nur mythische Bedeutung hatte. Eine Rekonstruktion, die eine Szene der „Odyssee“ zeigt, ist heute im Museum von Sperlonga zu sehen. Und um einen Archäologenkrimi, um die Rekonstruktion der Figuren und die Rolle der Skylla geht es (auf manchmal aberwitzige Weise) auch in dem Buch.

Peter Schneider spielt mit dem Spuk und Fluch der Vergangenheit allerdings noch auf einer dritten, zeitnäheren Ebene. Rechtsanwalt Leo wird durch einen etwas derangierten Deutschen, den es schon länger an die Küste von Latium verschlagen hat, unverhofft an seine verdrängte, fast vergessene Zeit als Agitator der Studentenbewegung in Berlin 1967/68 erinnert. Dabei geht es um ein Sprengstoffattentat, von dem Leo nie erfahren hatte.

Solches Nichtwissen wirkt leicht konstruiert, weil eine Bombe vor dem Springerhochhaus mit zwei Toten 1968 in den Medien nicht unbemerkt geblieben wäre und die Berliner Polizei das gewiss nicht als vermeintlich unpolitische Mafia-Tat behandelt hätte. Diese Roman-Hypothese gehört wie ein paar Flüchtigkeiten in nebensächlicheren Details zu den kleinen Schwächen des Buchs. Umso scharfsinniger und mit vielen überraschenden Wendungen inszeniert Peter Schneider dagegen das Ehedrama, die Abgründe italienischer Bau-Affären oder den Skylla-Kampf der Archäologen.

Auch die Schatten von ’68 werden in diesem autobiografisch gefärbten Roman nicht verdrängt. Aber zum Schatten gehört zuerst das Licht und nicht nur die Blendung durch einen „wunderbaren, notwendigen Wahnsinn“. Schneider hat ja die Zeitläufte damals genauso wie vor und nach der Wende als empfindlicher, oft hellsichtiger Beobachter erzählt oder auch essayistisch kommentiert: vom „Lenz“ (jetzt neu aufgelegt bei Rotbuch) bis zum „Mauerspringer“ oder „Eduards Heimkehr“. Dabei ist er vom Revoluzzer freilich nie zum opportunistischen Renegaten geworden. Er gönnt sich zum 65. Geburtstag indes ein Wagnis: Am Ende steht fast ein Wunder. Die Hunde der Skylla und die des bösen Nachbarn sind keine Rachegeister der Vergangenheit, keine Quälgeister der Gegenwart mehr. Sie verschwinden einfach.

Peter Schneider: Skylla. Roman. Rowohlt Berlin, 2005, 313 Seiten, 19,90€

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