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Kultur: Das Gespenst hat tausend Leben

Eigentlich will Hermann, ein mittelloser Pionieroffizier, zu Geld kommen, um Lisa, sein Wunschbild, heiraten zu können. In der Petersburger Gesellschaft gilt er wenig, weil er arm ist und die Liebste bereits einem anderen versprochen, dem Fürsten Jeletzky.

Eigentlich will Hermann, ein mittelloser Pionieroffizier, zu Geld kommen, um Lisa, sein Wunschbild, heiraten zu können. In der Petersburger Gesellschaft gilt er wenig, weil er arm ist und die Liebste bereits einem anderen versprochen, dem Fürsten Jeletzky. Zu einem Mittel, sein Ziel zu erreichen, wird ihm der Spieltisch, denn er ist von seiner literarischen Herkunft eine echt russische Spielernatur. Da aber aus Puschkins Meisternovelle die Oper „Pique Dame“ von Tschaikowsky geworden ist, verwirren sich die Fäden. Geht es dem schizophrenen Spieler ursprünglich allein um das vermeintliche Kartengeheimnis, das er aus einer steinalten Gräfin zu prügeln versucht, so verdrängt die gefühlstriefende Oper diese Geradlinigkeit der Erzählung. Lisa, dort die demütige Pflegetochter der Greisin, betritt die Bühne als umschwärmte Schönheit. Das Werkzeug des räuberischen Hermann mutiert zur Diva, die sich mit ihm in heißen Liebesgesängen verbindet. Will er nun Lisa, will er die unfehlbaren drei Karten? Von diesem Schwanken der Geschichte sind die Regisseure seit jeher gefordert.

An der Hamburgischen Staatsoper gibt es bei der bejubelten Premiere nur zwei deutliche Buhrufe. Die gelten Ingo Metzmacher und dürften den Grund haben, dass der Generalmusikdirektor sich anschickt, die Stadt zu verlassen. Das Philharmonische Staatsorchester bringt unter seiner Leitung einen edlen Eigenklang aus Präzision und musikalischer Atmosphäre hervor. (weitere Termine am 1., 4., 7., 14. und 17. Juni). Regisseur Willy Decker aber übermalt den Zwiespalt der Handlung, indem er das Außenseitertum Hermanns zum Thema macht: seine Einsamkeit, die sich mit der des Komponisten in der zaristischen Welt vergleichen lässt. Der düster blickende Held erlebt sich selbst im Gefängnis, die Inszenierung konzentriert sich darauf, ihm in die Seele zu sehen. Damit gewinnt sie an Schlüssigkeit, verliert aber jenes Kolorit russischen Lebens, das die Partitur in Liedern, Tänzen, Chören einbringt. Ihr Sog zielt von Anfang an auf den Tod. Sein Zeichen ist die Pistole.

Die Psyche im Knast bewegt sich zwischen hohen grauen Plattenwänden, die der Bühnenbildner Wolfgang Gussmann einem magischen Schiebezwang unterzieht. Dunkel ist das Leben, ist die Kunst. Natur kommt nicht vor, kein Frühling, keine Tür ins Freie. Wenn die russischen Offiziere im Petersburger Sommergarten spazieren gehen, sehen sie aus wie Sträflinge beim Hofgang, als Soldaten verkleidet. Das Mädchenduett Lisas und ihrer Freundin Pauline kommt aus dem off. Während die Chöre vom Wetter singen, beherrschen die Spielkarten in ihren Händen das Bild. Hermanns kranke Seele ist besessen von Spiel und Tod. Wo Lachen und Gesang erschallen, bleibt der Sensenmann nicht aus. Im bunten Gewühl eines Maskenfestes sieht Hermann sich als Pierrot im Sarg, indes die Spielkarten überdimensionale Größe annehmen wie bedrohliche Plakate. Der bohrende Blick der Inszenierung auf das Psychodrama klammert die Realität des Lebens aus, um in die Untiefen der Seele zu tauchen. Und es fasziniert, dass hier die Gräfin nicht nur hochbetagt, sondern als Generationen übergreifende Vorstellung existiert. Die mit heller Stimme singende Darstellerin Julia Juon ist keine Seniorin. Dank ihrer körperlichen Fitness, die sie vom herkömmlichen Rollenbild der großen alten Damen wie Martha Mödl oder Anny Schlemm unterscheidet, eignet sie sich zum Kunstgeschöpf: Jugend spielt Vergänglichkeit.

Die Aufführung bietet gefeierten Gesang auf: Adrianne Pieczonka als Lisa, Yvi Jänicke als Pauline; Egils Silins als Graf Tomsky, der die Erzählung von den drei Karten plastisch vorträgt, Dalibor Jenis als Jeletzky, ganz Wohllaut und blendende Erscheinung – und Robert Brubaker, sein bleicher, gebeugter Rivale Hermann, der mit Inbrunst das Leid des Protagonisten interpretiert. Allgegenwärtig aber ergreift die Gräfin von ihm Besitz: auf ihrem Jugendporträt, erinnernd an die untoten historischen Figuren des Künstlers Hiroshi Sugimoto, anachronistisch gekleidet als Alte, als stumme Spukgestalt, als Pique Dame der Karte. Das Bild zeigt sie vom Schlag getroffen auf dem Spieltisch (Foto: Thilo Beu). Einmal trägt sie die Tracht einer Kaiserin mit dem breiten Tonnenrock des 17. Jahrhunderts, während ihre Maske einen Totenschädel freigibt. Dieses Gespenst hat tausend Leben.

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