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Fantastische Realistin. Die 1982 in Kamerun geborene und in den USA lebende Schriftstellerin Imbolo Mbue.

© Kiriko Sano/Verlag

„Das geträumte Land“ von Imbolo Mbue: Finanzkrise, Migration und das Elend zweier Familien

Als die Blase platzt: Imbolo Mbues kluges Romandebüt erzählt vom Leben einer Einwandererfamilie in den USA, das eng mit der Familie eines Lehman-Brothers Bankers verzahnt ist.

Im 27. Stockwerk des Büroturms von Lehman-Brothers in Manhattan sitzen sich im Herbst des Jahres 2007 zwei Männer gegenüber. Jende Jonga, ein kamerunischer Einwanderer, der auf seinem Stuhl unruhig hin- und herrutscht und sichtbar schwitzt. Und Clark Edwards, einer der Top-Manager der Investmentbank, der mehr mit seinem Blackberry beschäftigt ist als mit seinem Gegenüber. Sie wechseln nicht viele Worte, aber am Ende ihres Gesprächs wird sich beider Leben und das ihrer Familien für immer verändern.

Jende wird Clarks Chauffeur, seine Frau Neni das Hausmädchen der Edwards’ in ihrer Urlaubsresidenz in den Hamptons. Das Paradies der Selfmademen, in dem Milch, Honig und Freiheit fließen, scheint in Imbolo Mbues Romandebüt „Das geträumte Land“ den beiden Einwanderern die Pforten ein Stück weit geöffnet zu haben. Doch Mbue, die selbst 1982 in Kamerun geboren wurde und für ein Studium in die USA auswanderte, ist keine Märchenerzählerin – wenn überhaupt, dann eine fantastische Realistin. Sie kreiert diese kleine private Blase, um sie mit der großen, weltumspannenden Blase, der Lehman-Pleite im Jahr 2008 zerplatzen zu lassen. Aus der angestimmten Hymne auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wird bald eine kraftvolle und mitreißende Elegie über die verheerenden Folgen seiner Fiktionen.

Ambivalentes Handeln jenseits der Stereotype

In den USA, wo ihr Debütroman bereits kurz vor der Präsidentschaftswahl 2016 erschien, ist Imbolo Mbue dafür gefeiert worden. Die „New York Times“ und die „Washington Post“ wählten „Das geträumte Land“ zu einem der besten Bücher des Jahres. Der Roman war mit Sicherheit einer der am meisten erwarteten: Die Autodidaktin Mbue hatte sich in Literaturkreisen einen Namen gemacht, noch bevor es im Internet ein Bild von ihr zu sehen oder eine Kurzgeschichte von ihr zu lesen gab. 2014 hatte der Verlagsriese Penguin Random House, einer der amerikanischen „Big Five“, Mbues Manuskript für eine Million Dollar gekauft. Susan Golomb, die Agentin von Jonathan Franzen und Rachel Kushner, nahm sie unter Vertrag.

Ein Grund für diesen Erfolg: Imbolo Mbue hat weder einen Pro- noch einen Anti-Migrationsroman geschrieben. Sie erzählt keine Geschichte über die Edwards als die Bösen und Unehrenhaften der Wall Street und die Jongas als edle, ambitionierte Migranten. Sie verzahnt die Schicksale der Familien und begibt sich mit ihren Figuren in den Zwischenraum der Moral, in dem die Menschen nackt dastehen und ihrer Stereotypen beraubt werden. Hier werden ihre Fehler und Tugenden sichtbar, ihr Humor und ihre Abgründe, und trotz nachvollziehbarer Beweggründe bleibt das Handeln letztgültig immer ambivalent.

Der liebende Patriarch

Clark Edwards versenkt sich in seine Arbeit, um seine Familie zu versorgen, Frau und Kinder, Eltern und Geschwister gleichermaßen. Doch er ist auch ein Junkie. Er braucht, wie sein Fahrer Jende Jonga bald feststellt, das Leben an der Wall Street wie die Luft zum Atmen – obwohl es ihn erstickt und die Familie, die er zu beschützen sucht, zerstört. Und Jonga tut zwar alles in seiner Macht Stehende, um den Traum eines besseren Lebens für seine Familie zu verwirklichen, und behandelt sie mit aufrichtiger Liebe und Respekt. Aber er gebietet zuweilen auch wie ein Patriarch über ihre Belange, geriert sich als „Beschützer und Fürsprecher“, der alleine zu wissen meint, was in ihrem „besten Interesse“ liegt.

Seine Frau Neni hingegen ist besessen von den USA. Von ihrem glitzernden Glamour, den riesigen Malls und den Menschen verschiedenster Hautfarbe. In Kamerun erwartet sie nichts als der Ausspruch ihres Vaters, eine Frau solle vom Leben nichts erwarten. Hier kann sie studieren, Karriere machen. „Für sie war Amerika synonym für Glück.“ Amerika bleibt das, selbst als das Land ihr klar zu verstehen gibt, dass es sie und ihre Familie nicht will. Und dass es bereit ist, sie zu vernichten.

Ist es das wert?

Jende Jongas vorgeschobener Asylgrund („Jeder tut, was er tun muss, um Amerikaner zu werden“) wird abgelehnt. Das Urteil lässt sich anfechten, das Unvermeidbare, die Deportation, auf das Ungewisse aufschieben. Jahre, Monate, vielleicht nur Tage. Doch dieser Platz im Wartezimmer des illegalen Einwanderer-Limbus ist reserviert für jene mit Anwalt und Geld. Und das geht den Jongas im Zuge der Finanzkrise aus. Genauso wie ihre Hoffnung auf ein besseres Leben. Jende muss sich als Tellerwäscher in 14-Stunden-Schichten verdingen, bis ihn Füße, Hände und Rücken schmerzen – und es reicht trotzdem nicht für die sich stapelnden Rechnungen. Das Märchen verkehrt sich in die brutale Realität der arbeitenden „sans-papiers“. Die Frage, ob es das alles wert ist, wird immer lauter und eindringlicher. Auch für die Edwards’, die zwar finanziell weich landen, aber durch die Wut all derer, die sie betrogen haben, unter die Räder kommen.

Imbolo Mbue erzählt das frei nach Tolstoi: Alle Familien leiden unter dem Kollaps, aber jede zerbricht auf ihre eigene Weise. Sie hat mit „Das geträumte Land“ einen klugen Roman geschrieben, voller Empathie, Wärme und präzisen Beobachtungen. Keine „great american novel“, auch keine afrikanische, sondern ähnlich wie Chimamanda Ngozi Adichie es 2013 mit ihrem Roman „Americanah“ getan hat – etwas Wunderbares dazwischen. Beinahe hundert Jahre, nachdem F. Scott Fitzgerald den amerikanischen Traum der „roaring twenties“ begraben hat mit seinem Spruch über die amerikanischen Leben, die keine zweiten Akte kennen, meint man, dass die Edwards’ und die Jongas sich schon mitten in diesem zweiten Akt befinden. Clark und Jende werden sich wiederbegegnen. Nicht im Büroturm der eingestürzten Träume, die sie zusammengebracht und wieder auseinandergerissen haben. Nicht als die Fremden, die sie waren, der afrikanische Einwanderer und der Wall-Street-Manager – sondern einfach als: Menschen.

Imbolo Mbue: Das geträumte Land. Roman. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 432 Seiten, 22 €.

Giacomo Maihofer

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