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Kultur: Das Glück hat 6 000 Songs

In der iPod-Falle: Sind wir Sklaven des Herunterladens? Wie sich die Entzauberung des Alltags umkehren lässt

Falls es jemand nicht mitgekriegt hat: Im Internet herrscht gerade mal wieder Aufregung. Es gibt inzwischen nämlich die erste wissenschaftliche Studie über die Hörgewohnheiten der Knopf-im-Ohr-Generation. Worin vor allem festgestellt wird, dass angesichts von heute in Sekunden rüberschiebbaren und dann in Streichholzschachtelformat mitnehmbaren Plattensammlungen zwar wirklich immer mehr Musik gehört wird, allerdings mit abnehmender Aufmerksamkeit – und immer öfter für sich.

Daraus lassen sich natürlich Schlüsse ziehen, wie sich Lebensgewohnheiten heute entwickeln. Gewiss hätte auch die Internet-Gemeinde in gewohnt epischen Ausmaßen darüber diskutiert, wenn sich die Wissenschaftler der Universität Leicester in ihrem Presse-Bulletin nicht gleich ein paar unwissenschaftliche Dummheiten geleistet hätten. Zum Beispiel halten sie es für mitteilungswert, dass auf iPods hauptsächlich Popmusik gehört wird. Was man natürlich als Abwertung verstehen kann, wenn man will. Noch dazu wird Musik angeblich nicht mehr unbedingt mit derselben Hingabe wie früher gehört. Aber wer will sich von vornherein verdächtigen lassen ein emotionaler Holzklotz zu sein? Da wittert man doch schon diesen Unterton: Früher war alles besser.

Auf jeden Fall wurden die Forschungsergebnisse von irgendwelchen englischen Provinz-Universitäten früher nicht bereits eine halbe Stunde später weltweit durch die Mangel gedreht. Man kann sich vorstellen, wie so etwas selbst gestandenen Psychologen (Fachbereich Musikpsychologie) zusetzt. Mit ansehen zu müssen, wie jahrelange Arbeit an 346 Testpersonen sofort verpufft.

Um es deswegen gleich vorwegzuschicken: Hier soll nicht gegen allernotorischste mp3-Sauger gewettert werden. Schon gar nicht gegen harmlose iPod-Hörer, die bis zu 6000 Songs speichern können. Denn sie alle sind erst mal zu beglückwünschen dafür, wie gut sie es haben.

Wer zum Beispiel als Mittvierziger an die Punk-, später Techno-Plattenläden zur eigenen Selbstversorgung denkt, kann sich nur in nostalgischsten Ausnahmefällen dorthin zurückwünschen. Mit der guten alten „habt ihr was von“-Frage war man verloren. Oder heutzutage Müller. Wer will schon Musik bei Müller kaufen? In spiritueller Ödnis. So einsam kann man sich am Rechner gar nicht fühlen, als dass man das nicht gerne in Kauf nähme.

Auch das Hörerlebnis selbst muss in Zeiten des immateriellen Datentransfers nicht im sozialen Vakuum ablaufen. Von den allertollsten DJs fangen immer mehr an, mit mp3s aufzulegen. Natürlich selten in der bescheidenen Qualität, die man bei iTunes oder wie sie alle heißen bekommt. Aber für die meisten von ihnen ist es schon allein ein Segen, nicht mehr mit irgendwelchen bescheuerten, auf Oma-Wägelchen geschnallten Plattenkisten jet-setten zu müssen.

So kann das also auch laufen. Aber meistens läuft es eben doch anders. Ein typisches Setting sieht laut Studie so aus: Man ist alleine. Es ist Nacht. Zwischen 22 und 23 Uhr. Man macht irgendwas. Hausarbeit oder im Internet surfen. Und irgendwo läuft eine Art Hintergrundgeräusch. Eigentlich ist es ziemlich tolle Musik. Man hat sie schließlich selber angeklickt. Aber sie läuft irgendwie nur so nebenher.

Man könnte nun sagen: „Na und? So ist es halt auch manchmal, das Leben. Kann doch nicht immer eitel Sonnenschein sein.“ Andererseits: Warum eigentlich nicht? Warum ist uns verloren gegangen, so viel Sonnenschein wie möglich mitzunehmen? Weil wir heute keine solar-gepolten Naturvölker mehr sind, die sonst nichts zu tun hatten? Weil man sich, bei all den angeblichen Zwängen, die ständig auf einen einströmen und die man noch dazu selten als solche erkennt, so unglaublich darauf konzentrieren muss, was und warum man was eigentlich tut? Das wäre genau das.

Ein Beispiel: Es gibt im schönen Freiburg im Breisgau einen Mann Mitte vierzig, der es sich zur Angewohnheit gemacht hat, abends beim Zähneputzen gleichzeitig Zeitung zu lesen, weil er sonst mit seinem Abonnement nicht mehr hinterherkommt. Abgesehen davon, dass ihm dabei öfters die eine oder andere Flüssigkeit aus dem Mund tropft, könnte er ja auch einfach vor dem Spiegel stehen bleiben und sich freuen, in diesem Alter noch alle Zähne zu haben. Oder überhaupt noch am Leben zu sein. Vor allem, nachdem er in letzter Zeit erfahren hat, dass das alles andere als selbstverständlich ist.

Oder vielleicht ein Beispiel näher am Thema: Eine Frau erzählt mitten im aufgeregtesten Debattengetümmel auf „SPIEGEL-Online“, dass sie heute, dank mp3, auf einem Alpengipfel sitzen und nebenher klassische Musik hören kann. Was zwar gleich viel erfrischender klingt, aber trotzdem seltsam.

Sitzt sie dann wirklich alleine da oben? Oder vielleicht doch in der Gruppe? Haben die anderen auch Kopfhörer zur Verfügung? Ihnen allen seien natürlich die erhebendsten Momente gegönnt. Aber es sind eben auch vorgefertigte Momente, die gerade wieder mal in einen bisher relativ transparenten Lebensbereich drängen. Wir bewegen uns im Schema Berge und haben den klassischen Soundtrack für erhebende Bergmomente dabei.

Es geht doch um viel mehr, als sich da oben wie in einer öffentlich-rechtlichen Bergdoku zu verhalten. Wenn man sich zum Beispiel einen romantischen Bergbeschreiber wie Adalbert Stifter vorstellt. Der hätte die ganze Szenerie wahrscheinlich genau anders herum beschrieben: Eine Frau hört klassische Musik und sitzt nebenher auf einem Berg. Er hätte gedacht und es höflich wie er war auch so ausgedrückt, dass da jemand nicht so ganz bei sich ist.

Damit soll dem modernen Menschen natürlich nicht die Tiefe abgesprochen werden. Das ist ja gerade das Tragische: Gerade wegen der allgemeinen Tendenz der Entzauberung des Moments, dem ganzen Mist, mit dem man den ganzen Tag über zugeschüttet wird, den ganzen Vorstellungen und Meinungen, den angeblich wiederum so wichtigen Nebengeräuschen, bietet es sich ja geradezu an, für ein bisschen selbst gewählten Zauber sorgen zu wollen.

Nur ist dieser leider in den seltensten Fällen wirklich selbst gewählt. Denn er wird meist nicht nur vorgefertigt, sondern auch niedagewesen-ausgefuchst vermarktet. Und man selber ist so damit beschäftigt, kein Konsumtrottel zu sein und sich durch den 99-prozentigen Mist auch noch durchwühlen zu wollen, seine ganze Zeit damit voll zu packen, bis hin zum Zähneputzen, dass man kaum merkt, nur das geringere Übel gewählt zu haben. Man kommt kaum noch dazu an die Magie in einem selber zu denken. Oft reduziert sich das nur noch auf dieses unbestimmte Gefühl: Hä, war da noch was? Und schon ist es wieder verschwunden.

Um uns herum passiert so viel, dass wir uns zum ersten Mal gleichzeitig in mehreren Zeitaltern befinden. Im Atomzeitalter. Im Zeitalter der Umweltverschmutzung. Im digitalen Zeitalter. Diese Gleichzeitigkeit verschärft sich nicht zuletzt wegen der ganz normalen Skrupellosigkeit, mit der die Möglichkeiten der Digitalität ausgenutzt werden.

Wenn ein Internet-Heiliger wie Steve Jobs eine Reihe von wunderschönen und genialen Geräten oder Plattformen wie den iPod, iTunes oder vorher das Powerbook G4 auf den Markt bringt, möchte er gewiss etwas Schönes und Nützliches erschaffen. Aber dass derlei Ideen vom zirkulierenden Datengenuss heutzutage nur noch die relativ bedeutungslose Hülle einer inzwischen acht Milliarden Dollar Jahresumsatz schweren Firma sein kann, das hat er Ende der Achtziger selbst erlebt, als er von dieser seiner Firma schon mal gefeuert wurde.

Sogar Steve Jobs muss also Gewohnheiten erzeugen und damit genau das Fitzelchen Freiheit missbrauchen helfen, das er selber mit geschaffen hat. Was einem ehemaligen Hippie und Revoluzzer wie ihm wahrscheinlich schwer im Magen liegen dürfte. Sein Problem. Blöder ist, dass ja fast jeder in einer ähnlichen Lage steckt. Und sei es nur als Kleinsträdchen, das irgendetwas tut, obwohl es eigentlich weiß, dass es besser etwas anderes tun sollte. Im Endeffekt läuft dann leicht mal das ganze Leben nebenher.

Trotzdem: Die Freiheit, das Richtige zu tun, geht einem nie verloren. Selbst wenn man nicht weiß wie. Der Krimi- Schriftsteller und Country-Sänger Kinky Friedman erzählt in verräucherten Interviews gerne, was seine Mutter ihm einst in Texas am Bettchen erzählte, wenn er gar zu traurig war: „Wenn Gott die Tür zuschlägt, öffnet er woanders ein kleines Fenster.“ Da kann man sich dann von der Sonne bescheinen lassen – oder durchkrabbeln. Aber bei dem bisschen Lebenszeit, die einem als Erwachsener bleibt, sollte man sich vielleicht nicht darauf verlassen, dass es ewig offen bleibt oder dass er das nächste Fenster noch mal genau vor der eigenen Nase aufmacht.

Auch wenn gegen die einzelne Ablenkung oder das einzelne Nebenher-was-anders-machen also überhaupt nichts zu sagen ist: Nachdem daraus inzwischen ein einziges großes, wissenschaftlich belegbares Nebenher geworden ist, bleibt für den Einzelnen immer weniger Gelegenheit, etwas voll und ganz zu tun. Aber dieses Voll und Ganz, die Konzentration, die richtige Entscheidung im richtigen Augenblick, ist letztlich der einzige Zustand, in dem man das eigene Leben wirklich selbst im Griff haben und folglich auch etwas verändern kann.

Jürgen Teipel, 44, lebt in Freiburg im Breisgau. Mit „Verschwende deine Jugend“ (Suhrkamp) schrieb er eine Oral History der deutschen Punk-Bewegung. Seit drei Jahren arbeitet er an einem Doku-Roman über DJs und Clubkultur.

Jürgen Teipel

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