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Wanderer zwischen Orient und Okzident. Yasmina Khadra im algerischen Oran. Foto: Sandrine Roudeix/Gamma/laif

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Kultur: Das Glück verteidigen

Yasmina Khadra erzählt vom Kampf um die algerische Unabhängigkeit

Am Ende eines Lebens bleiben die Archive des Gedächtnisses. Vielleicht steht man wie Younes, der Ich-Erzähler von Yasmina Khadras Roman „Die Schuld des Tages an die Nacht“, an einem offenen Fenster in Aix-en-Provence, starrt in den nachtblauen Himmel, an dem der „Mond wie ein Medaillon hängt“, und durchforstet in den Schubladen die „endlosen Bänder mit Rohmaterial“. Die Erinnerungen an die Helden des Alltags und die Erinnerungen an die „Mythen-Helden eines Camus, deren Rolle wir nicht einnehmen konnten“. Dem Durchschnittsmenschen bleibt nur, alles Revue passieren zu lassen, „die Freuden, die Verfehlungen, die vertrauten Gesichter“.

Yasmina Khadra, der 1955 als Mohammed Moulessehoul geboren wurde und den größten Teil seines rund 20 Romane umfassenden Werks unter dem Namen seiner Frau veröffentlicht hat, nachdem er als Offizier der algerischen Armee Zensurbestimmungen zu umgehen versuchte, setzt mit „Ce que le jour doit à la nuit“ allen politisch Schwankenden ein Denkmal. Denen, die daneben standen, als die Welt im nach Unabhängigkeit strebenden Algerien wieder einmal ein entscheidendes Revolutionsstück auf die Bühne brachte. Khadra, der heute in Paris das algerische Kulturinstitut leitet, hat damit wieder einmal einen farbigen, dem Pathos starker Bilder nicht abgeneigten Roman geschrieben, in dessen Opulenz man versinken kann.

Als Kind kommt Younes mit seiner Familie nach Oran, der blühenden Kolonialmetropole Westalgeriens. Er ist, wie er später erfährt, das letzte Glied einer edlen Familie, doch ein Brand, fortlaufende Metapher des Romans, hat die Ernte zerstört. Younes Vater Issa muss „durch den Spiegel“ gehen und aufgeben, was ihm das Liebste ist, sein Land. Die verarmte Familie landet in Djenane Djato, dem arabischen Schattenviertel der Stadt. Im wohlhabenden europäischen Teil lebt Mahi, Issas Bruder, mit seiner katholischen Frau Germaine und betreibt eine Apotheke. Trotz großer Anstrengungen schafft Issa es nicht, seine Familie aus dem Elend zu befreien. Onkel Mahi, der mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN sympathisiert, adoptiert Younes – und aus ihm wird Jonas. Seine glückliche Kindheit in Oran und die unbeschwerte Jugend in Río Salado verbringt er mit drei Freunden aus dem katholischen und jüdischen Milieu, „unzertrennlich wie ein Forkenzinken“.

Überschattet wird sein Leben nur vom Vater, der ihm als bettelnder Wiedergänger erscheint, von der Verhaftung des Onkels, dem Verlust von Mutter und Schwester, die, wiederum nach einem Brand, spurlos verschwinden. Der Jüngling mit dem Engelsgesicht betört unfreiwillig Mädchen- und Frauenherzen.

Über der Alltäglichkeit seiner Freundschaften, der aufkeimenden Konkurrenz unter den jungen Männern und dem Zerfall durch wechselnde Liebeleien, liegt unheilvoll die Geschichte des Landes. War es für Younes von Kind auf „Bestimmung, immer wieder fortzugehen“ und den Zorn zu spüren, wenn Araber diffamiert wurden, erlebt der Heranwachsende die Zerrissenheit zwischen seiner arabischen Herkunft und der europäischen Existenz. „Du bist einer von uns, aber du führst ihr Leben“, hält ihm der von den Freunden kujonierte Djelloul, ein späterer Befreiungskämpfer der FLN, entgegen. Dass es zwischen katholischer Bevölkerung und Arabern keine Verbindung geben darf, hat Jonas schon von einer frühen Freundin lernen müssen: „Kannst du dir vorstellen, dass ich einen Araber heirate? Da krepier ich doch lieber!“ Auch zwischen ihm und Émilie, der Liebe seines Lebens, stehen Vorurteile, Missverständnisse und Fehlverhalten: „Das, was wir Schicksal nennen, ist nur die Hartnäckigkeit, mit der wir uns weigern, zu den Folgen unserer kleinen oder großen Schwächen zu stehen.“

In der spröden Liebesgeschichte, die den Hauptteil des Romans bestimmt, ist eine Liebe ganz anderer Art aufbewahrt, die Liebe zum Land. Beide Parteien im Kampf um die algerische Befreiung, so lautet eine Botschaft Khadras, dürfen Hingabe für sich reklamieren: die Nachgeborenen der phönizischen, jüdischen und spanischen Eroberer, die das „gottverlassene Stück Erde“ gezähmt und fruchtbar gemacht haben und es mit dynastischer Arroganz verteidigen; wie auch Younes, der sich in einem seltenen Moment von Entscheidungskraft auf die arabische Seite wirft und gegen die Enteignung der Ziegenhirten wütet.

In Frankreich, wohin die pieds noirs nach dem Ende der Kolonialherrschaft fliehen, trifft er als alter Mann Jahrzehnte später noch einmal zum Tod seiner großen Liebe Émilie mit alten Freunden zusammen. Er wird das „Talent zum Glücklichsein“ wieder finden, das er seinem Vater immer abgesprochen hatte. Und in die Runde, in der die politischen Konflikte der Vergangenheit ein letztes Mal aufscheinen, kehrt ein Stück jener Poesie zurück, mit der dieser Roman so überwältigend anhebt, als Issa zu weinen beginnt, „bis er keine Tränen mehr hatte.“

Yasmina Khadra: Die Schuld des Tages an die Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe.

416 Seiten, 19,95 €.

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