zum Hauptinhalt

Kultur: Das große Panoptikum

Nach 90 Jahren wieder da: Salomo Friedlaenders „Graue Magie“, ein Berliner Gesellschaftsroman.

Wenn Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts war, wie einst Walter Benjamin befand, dann war Berlin – noch vor New York – die Hauptstadt des frühen 20. Jahrhunderts. Das Berlin der zehner und zwanziger Jahre jener Epoche, die von den Nazis ausgelöscht wurde. Ein Ort im preußischen Sand, aus dem tausend wilde wüste Blumen wuchsen und die Faune und Fabelhaften, die Lichter und Irrlichter des Weltgeists flanierten, spukten, spielten, malten und schrieben.

Einer von den Tollköpfigsten, schwirrend zwischen Philosophie, Poesie und Aberwitz war Salomo Friedlaender, 1871 geboren bei Posen, gewirkt in Berlin, 1933 vertrieben und 1946 gestorben in Paris. Heute Abend kehrt er im Literaturhaus in der Fasanenstraße geistig zurück.

Friedlaender nannte seine Geschichten Grotesken und sich selbst Mynona, in Umkehrung des Worts anonym. Bis Hitler vor 80 Jahren an die Macht kam, war Herr Mynona/Friedlaender von Berlin bis Wien schon ein bisschen weltberühmt, hatte mehr als ein Dutzend Bücher verfasst und hunderte Aufsätze. Karl Kraus lobte seine unter anderem im Expressionistenblatt „Der Sturm“ erschienenen Grotesken, Kafka, Benjamin und der junge Adorno lasen ihn, der Philosoph und Soziologe Georg Simmel empfahl M/F und dessen exzentrische Nietzsche-Biografie, Künstler wie Alfred Kubin und Georg Grosz illustrierten seine vielfältigen Imaginationen. In Paris aber ist der Friedlaender, kaum dem Holocaust entkommen, dann arm und vergessen dahingeschieden.

Nur sein literarischer Nachlass hat wie durch Wunder überlebt, und der Münchner Schriftsteller, Musiker, Performer und Expressionismus-Experte Hartmut Geerken hat ihn gesichert. Wertvolle Stücke aus Friedlaenders Bibliothek gingen ans Marbacher Literaturarchiv, die aus Kisten und Kasten geretteten frühen Drucke, Briefe und tausende Manuskriptseiten übergab Geerken dem Archiv der Berliner Akademie der Künste.

Auf diesem Bestand basiert auch die noch für viele Jahre geplante 35-bändige F/M-Gesamtausgabe in der Edition Waitawhile, benannt nach Geerkens Wohnort Wartaweil am bayerischen Ammersee. Anlass, dass Geerken zusammen mit seinem Mitherausgeber Detlef Thiel das verwegene Projekt jetzt in Berlin präsentiert, ist der gerade erschienene 14. Band: Friedlaender/Mynonas „Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüsselroman“.

Was darin steht, ist grau und schillernd, magisch und verrückt – und kaum nacherzählbar (aber vielleicht schafft das ja der multitalentierte Herausgeber Geerken). Es ist, zuerst 1923 erschienen, ein Berliner Gesellschaftsroman, durch den auch Fontane, Rathenau oder Einstein geistern. Zugleich ist es indes auch die halbphilosophische Parodie von Gesellschaft und Detektiv-Roman, mit nackten scheintoten jungen Damen, die als Tattoo die Illusion eines Keuschheitsgürtels tragen. Der Spaß eines metropolitanen Altkantianers und Spätromantikers. 90 Jahre später nun wiederzuentdecken. Peter von Becker

Salomo Friedlaender/Mynona: Graue Magie. Ein Berliner Nachschlüsselroman. Edition Waitawhile, 430 Seiten, 44, 90 €

Vorstellung am 15. 11. um 20 Uhr im Literaturhaus, Fasanenstraße 23.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false