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Kultur: Das Individualismus-Gespenst

Alain Ehrenberg vergleicht amerikanische und französische Vorstellungen von Autonomie

Bei manchen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie „ich“ sagen, wetterte Adorno vor einem halben Jahrhundert in den „Minima Moralia“ gegen den Konsensbürger. Mittlerweile scheint die eigentliche Zumutung darin zu bestehen, dass abgesehen von der ersten Person Singular nichts mehr bleibt, auf das man sich berufen könnte. Ständig sieht man sich genötigt, Autonomie und Fähigkeit zur Initiative zu demonstrieren. Besonders einflussreich wurde diese Ansicht vor einigen Jahren von dem französischen Soziologen Alain Ehrenberg vertreten. „Das erschöpfte Selbst“ lautet der Titel seiner 2005 auf Deutsch erschienen Studie, in der er sich den Verschleißerscheinungen der demokratischen Gesellschaften nach ’68 widmete: An die Stelle des Korsetts aus institutionellen Bindungen und moralischen Normen sind eine flexible, wettbewerbsorientierte, zunehmend prekäre Arbeitswelt und die unendlichen Möglichkeiten der privaten Lebensgestaltung getreten.

Während der Neurotiker vor hundert Jahren an einer repressiven Gesellschaftsordnung, mithin an der Frage „Darf ich das tun?“, irre wurde, wird man heute vom Ideal des eigenverantwortlich handelnden Subjekts an den Rand der pathologischen Erschöpfung getrieben. Weil sich fast jeder irgendwann von der Pflicht zur Selbstwerdung überfordert fühlt, häufen sich Depressionen, Burnout und Suchterkrankungen. „Bin ich in der Lage, das zu tun?“ ist zur modernen Frage avanciert, an der sich die seelische Gesundheit entscheidet.

Wenn Ehrenberg in seinem neuen Buch „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ an diese Diagnose anknüpft, geschieht dies vor allem, um sie zu relativieren. So gilt zwar weiterhin, dass sich der Einzelne im Zeitalter des Massenindividualismus ganz anderen Anforderungen stellen muss als die Generationen vor ihm, doch das eigentliche Problem sieht Ehrenberg in der pessimistischen Beurteilung dieses Wandels. Das in der Gesellschaft artikulierte Unbehagen, so der entscheidende Gedanke, sei ein „Sprachspiel“, die viel beschworenen Pathologien der Autonomie seien im Kern Produkte einer diskursiv erzeugten Kollektivpsychologie, die in den letzten vier Jahrzehnten von jenen Debatten bedient wurde, die den Individualismus als Zeichen des Niedergangs stigmatisieren und im Gegenzug ein vergangenes goldenes Zeitalter des psychischen Wohlbefindens beschwören, in dem es zwar keine grenzenlose Handlungsfreiheit, dafür aber entlastende Strukturen, vulgo: „echte“ Institutionen, Arbeitsplätze, Schulen, Familien et cetera gegeben habe.

Ehrenberg stört sich an der Selbstverständlichkeit, mit der die Verfallsklagen sich auf die Gleichung „Aufstieg des Individualismus = Niedergang der Gesellschaft“ stützen. Unreflektiert werde damit Evidenz und objektive Gültigkeit eingeklagt, die national und kulturell variable Bedeutung dieser Formel bleibe in der Regel außen vor. Diesem Versäumnis wird mit einer 500-seitigen diskursanalytischen Vergleichsstudie zu Leibe gerückt, in der die Individualismuskritik in Frankreich mit ihrem Pendant in den USA kontrastiert wird.

In beiden Fällen steht für Ehrenberg der Begriff der Autonomie im Mittelpunkt der Debatte, meint aber nicht dasselbe: Die Franzosen verstehen darunter Gleichheit, in Amerika hingegen ist Autonomie synonym mit Kooperation, Chance und Wettbewerb. In Frankreich hat der Staat seit der Revolution die Aufgabe, Schutz zu gewähren und die sozialen Gräben innerhalb der Gesellschaft zu überbrücken. Die Entinstitutionalisierung und Privatisierung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche wird als Gefahr für den leicht zu überfordernden Einzelnen wahrgenommen. In den USA, wo persönliche Entfaltungsfreiheit und Erfolg seit jeher als notwendiger Beitrag zur Gemeinschaft gedacht worden sind, beklagt man mit der Zunahme des Privaten das Schwinden des Gemeinsinns, das Nachlassen der demokratischen Verantwortung. Während sich in Frankreich das Schreckgespenst des Individualismus gegen das Individuum wendet, bedroht es in den USA die Gesellschaft.

Ehrenberg verwirft diese Diskurse nicht in Bausch und Bogen, sondern betrachtet sie als „Erzählungen“, als nationale „Mythologien“, welche der in demokratischen Gesellschaften „zwangsläufig und notwendig“ auftauchenden Sorge um den Substanzverlust des Gemeinschaftslebens Ausdruck verliehen. Auch wenn es ihm in erster Linie um die Darstellung der französischen Gegenwartsproblematik geht, ist doch das beeindruckendste Kapitel seines Buches jenes über die „amerikanische Jeremiade“, in dem er die Genese und Transformation dieser eigentümlich demokratischen Beunruhigung bis zu ihren Ursprüngen in den puritanischen Predigten des 17. Jahrhunderts zurückverfolgt.

Doch was als Mythos seine Legitimation haben mag, ist noch lange nicht zur Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit geeignet. Für Ehrenberg können gerade die modernen Formen der beiden Jeremiaden keinen Anspruch mehr erheben, als Soziologien ernst genommen zu werden. Seine Kritik richtet sich hier gegen die in den letzten vier Jahrzehnten etablierte Methode, Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Psychoanalyse zu betreiben. Richard Sennett wird als Pionier dieses Verfahrens genannt. 1974 erschien dessen, umgehend als Klassiker der Soziologie kanonisiertes Werk „Ende und Verfall des öffentlichen Lebens“. Seither taucht Narziss nicht mehr bloß in der medizinischen Diagnostik auf, sondern ist die tragische Figur schlechthin des massenindividualistischen Zeitalters.

Die Franzosen, die sonst theoretischen Neuerungen aus Übersee skeptisch gegenüberstanden, griffen diese Verquickung von Gesellschaftskritik und Psychoanalyse bereitwillig auf, modifizierten sie allerdings unter Rückgriff auf die Thesen und Begriffe Lacans, der das autonome Ich zur Illusion erklärt hatte. Damit wurde das nach französischer Staatsauffassung ohnehin schon schutzbedürftige Individuum endgültig geschwächt. Durch den Einfluss der Psychonanalyse in Frankreich habe sich jener „antiliberalistische Konsens“ verfestigt, der auf klinisches Vokabular zurückgreift, um vorschnelle moralische und politische Urteile über den sozialen Wandel zu treffen.

Als pragmatischer Vertreter einer methodologisch streng abgegrenzten, dezidiert empirisch verfahrenden Soziologie bezieht Ehrenberg Position gegen realitätsferne Herrschaftsdiskurse, gegen die „Sprache der leidenschaftlichen Anprangerung“, die aus jedem Hindernis einen boshaften Gegner macht, und damit zwar Gründe liefert, sich zu empören, aber keine Handlungsoptionen aufzeigen kann. Letztere bekommt man allerdings auch von Ehrenberg nicht geliefert, obgleich er Derartiges offensichtlich beabsichtigt. Nachdem er mit diskursanalytischen Seziermessern die liberale Autonomiedebatte der Amerikaner ebenso bis auf die Knochen freigelegt hat wie die antiliberale der Franzosen, bleibt unklar, aus welcher Substanz die Autonomie beschaffen sein könnte, an die er selbst appelliert. Fest steht lediglich: Der Mensch bleibt zur Freiheit verdammt.

Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 530 S., 29,90 €.

Marianna Lieder

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