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Nackig machen. Max Thieriot als Kyle in „Disconnect“.

© Phil Bray/Weltkino/dpa

Das Internet im Kino: Allein im Widerschein

Episodisch: Der Thriller „Disconnect“ zeigt die dunklen Seiten sozialer Netzwerke.

Sich filmisch einem so komplexen und ungreifbaren Thema wie dem Internet anzunähern, ist fast unmöglich. Man müsste nicht eine Geschichte erzählen, sondern viele, simultane, vernetzte. Als Episodenfilm scheint „Disconnect“ dafür die passende Form.

Der Jugendliche Ben verliebt sich auf Facebook in ein Mädchen, unwissend, dass zwei Schulkameraden hinter dem Profil stecken. Der frustrierte Büroarbeiter Derek (Alexander Skarsgård) verdrängt den Tod seines Sohnes beim Online-Poker, während seine Frau Cindy (Paula Patton) Trost in einer Selbsthilfegruppe sucht. Die Journalistin Nina (Andrea Riseborough) recherchiert unterdessen in Sex-Chatrooms und nimmt Kontakt zu einem Teenager auf, der sich für Geld vor der Webcam entblößt.

„Disconnect“ versammelt Abgründe des Internetzeitalters: Betrug, Identitätsdiebstahl, Cybermobbing, Minderjährige auf Sexseiten. Regisseur Henry-Alex Rubin, bislang bekannt geworden vor allem als Werbefilmer, inszeniert jedoch keinen vorhersehbaren Hightech-Thriller über digitale Paranoia. Das Internet wird zum Ort von Geständnissen und der Reflektion der eigenen Beziehungen. Cindy, in ihrer Trauer allein gelassen von Ehemann Derek, findet erst online einen Ansprechpartner, mit dem sie anonym über ihre Probleme reden kann. Als ihr Gegenüber sie nach ihrem Mann fragt, hält Cindy jedoch inne. Ihre Nachricht, er sei am Tod des Sohnes seelisch zerbrochen, löscht sie, statt sie abzuschicken.

Auch der Anwalt Rich Boyd (Jason Bateman) erkundigt sich erst nach den Interessen seines Sohnes Ben, als er mit Bens vermeintlicher Freundin chattet. Dabei zeigt die Kamera die Gesichter der Protagonisten in Großaufnahme, einsam und regungslos im – durch die übertriebene Farbkorrektur leider oft künstlich verfärbten – Widerschein ihrer Nachttischlampen und dem bläulichen Schimmer der Bildschirme. Die Dialogzeilen aus den Chats springen als Textfenster ins Bild. Die Protagonisten selbst geben währenddessen keinen Laut von sich.

Derlei Szenen sind entlarvend: Erst die Distanz der Figuren zueinander – räumlich wie persönlich – ermöglicht ihnen Intimität und Wahrhaftigkeit. Die brisantesten Dialoge sind die getippten; Gespräche von Angesicht zu Angesicht enden dagegen meist in einer Sackgasse. Wenn sich die Familie zum abendlichen Dinner zusammenfindet, ein Vater seinen Sohn zur Rede stellt oder eine Journalistin sich an einer Straßenecke mit einem der Porno-Teens trifft, wird gelogen und herumgedruckst. Hier geht die Handkamera auf Distanz – gleichsam voyeuristisch blickt sie durch Fenster, Autoscheiben und Bauzäune, während Autos und Fußgänger im Vordergrund durchs Bild huschen.

Dieses Selbstoffenbarungskino bleibt spannend, wenngleich das Geschehen zunehmend melodramatisch wird, sobald die einzelnen Handlungsstränge zusammenlaufen. Dann kommt es zur offenen Konfrontation zwischen (vermeintlichen) Tätern und Opfern, und Tränen fließen mal in Krankenhauszimmern, im Bett oder am Steuer eines Wagens. Das überlebensgroße Pathos allerdings von artverwandten Episodendramen wie „L.A. Crash“ (2004) oder „Babel“ (2006) bleibt aus. Das liegt auch an den starken Darstellern, vor allem den jungen.

In den USA ist „Disconnect“ bereits im April 2013 angelaufen, floppte jedoch an den Kinokassen mit einem Einspielergebnis von nur 1,4 Millionen Dollar landesweit. Das Internet erweist sich, ähnlich wie beim finanziell desaströsen Biopic „Inside Wikileaks“, als schwieriges und undankbares Sujet. Doch überzeugt „Disconnect“ als sorgfältiges Erzählkino, in dem die Technik nur Mittel ist, um Menschlichkeit zu zeigen.

Im Cinestar Sony Center (OV), Kino in der Kulturbrauerei, B-ware-Ladenkino, Rollberg

Philipp Sickmann

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