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Kultur: Das Irrenhaus als Hort der Normalität

Lachen über die Sowjetunion: der Roman „Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million“.

Der eindrucksstarke, temporeiche Bericht eines sowjetischen Autorenduos über eine Reise quer durch das Amerika der großen Depression war nicht nur im Jahr 1936 eine Sensation, sondern wurde vor zwei Jahren – in deutscher Übersetzung und feiner Buchgestaltung – auch zu einem der größten Erfolge der Anderen Bibliothek. Nun folgt auf „Das eingeschossige Amerika“ eines der Werke, die den Ruhm von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow begründeten: „Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million“. Der Titel klingt nach einer weiteren kapitalistischen Tour de Force, aber der Roman spielt im Land der Arbeiterträume um das Jahr 1930.

Ostap Bender ist nicht ganz einverstanden mit dem Atem der Geschichte, wie er dort neuerdings weht. „Ich will weg von hier. Letztes Jahr sind bei mir ernsthafte Unstimmigkeiten mit der Sowjetmacht entstanden. Sie will den Sozialismus aufbauen. Ich will nicht. Das ist mir zu langweilig.“ Bender ist ein Erz-Individualist, mithin: ein Typ von gestern, der quer zur kollektivistischen Epoche steht, sich deshalb aber auch als schelmische Hauptfigur eines satirischen Romans über die frühe Sowjetunion eignet.

Sein eigenwilliger Plan: Er will einen NÖP-Millionär um sein Geld bringen. Und dann: Ab nach Rio! Doch die von Lenin veranstaltete Neue Ökonomische Politik mit privatkapitalistischen Lizenzen ist vorbei, das Land steht im Zeichen von Zwangskollektivierung und erstem Fünfjahresplan. Millionäre sind scheu geworden. Der eine, den Bender schließlich anvisiert – ein gewisser Alexander Korejko –, führt inzwischen eine Scheinexistenz als braver Buchhalter und wartet auf die Rückkehr des Kapitalismus.

„Automobilmachung“ ist angesagt. Mit ihrer Klapperkiste setzen sich der „große Kombinator“ und seine Kumpane auf die Spuren des heimlichen Millionärs: ein Roadmovie durch ein Land im Totalumbruch. Da werden Traktorenwerke, Filmfabriken, Stahlstädte und neue Verkehrswege in beinahe futuristischer Prosa geschildert. Vielfach zeigen sich aber auch alte Untugenden in neuer Pracht: Bürokratismus, Prinzipienreiterei und Korruption. Vor allem die sowjetische Liebe zu pompösen Formeln, die eine schäbige Wirklichkeit aufschmücken sollen, wird satirisch produktiv. Als die Bender-Bande Korejko in Tschernomorsk ausfindig macht, eröffnet sie zu Tarnzwecken erst einmal ein Büro, genauer: eine „Tschernomorsker Filiale des Arbatower Kontors zum Ankauf von Hörnern und Hufen“. Überall heiße Worte – und nur wenig dahinter.

„Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million“ ist ursprünglich als Fortsetzungsroman erschienen. Der Faden der Handlung hängt manchmal durch, einige Episoden sind nur lose hineingeknüpft, darunter gibt es jedoch Kabinettstücke wie die Geschichte von Wassissuali Lochankin, der in den Hungerstreik tritt, weil ihn seine Frau verlassen will – da zerreißt er demonstrativ seine Brotkarte. Die Handlung führt bis nach Zentralasien. „Jetzt bin ich Millionär“ kann Ostap Bender am Ende ausrufen. Nur hat er überhaupt nichts davon. Privatkapital lässt sich im Sowjetreich nicht in Werte transferieren.

Sozialistischer Aufbau könne allein mit Halleluja-Gesängen nicht funktionieren, schreiben Ilja Ilf und Jewgeni Petrow selbstbewusst im Vorwort. Proletkult und kommunistischer Humor hatten damals international Konjunktur. Etwas von dem Lebensgefühl der Aufbruchszeit überträgt sich noch heute bei der Lektüre. Man fühlte sich, bei aller Kritik am Detail, auf der richtigen Seite der Geschichte, der Fünfjahresplan war die gelebte Utopie.

Lachen über die Sowjetunion ist hier möglich, weil sie unter der Hand doch wieder ins Recht gesetzt wird. An einer Stelle nimmt Ostap Bender den programmatischen Atheismus aufs Korn: „Wie lange das dauert, weiß Gott allein. Da es jedoch keinen Gott gibt, weiß es niemand.“ Dann aber stößt man auf die expressiv-bedrohliche Beschreibung einer Kirche: „Die Kirche war riesengroß. Sie bohrte sich in den Himmel, spitzig und stechend wie eine Fischgräte.“ Raffiniert wird die offizielle Linie wiederum bestätigt.

Die erstmals vollständige Neuübersetzung von Thomas Reschke liest sich gewitzt und frisch; sie korrigiert einige Fehler der älteren, in der sich zum Beispiel der untergetauchte Millionär als Buchhändler und nicht als Buchhalter tarnt. Dieser Roman ist noch heute eine amüsante Lektüre, weil er sich – über die zeitgebundene Satire hinaus – als menschliche Komödie der Gier erweist. Bei den Schrecken des Gulag-Kommunismus ziehen Ilja Ilf und Jewgeni Petrow allerdings die Humorbremse, auch wenn es Passagen gibt, die aufhorchen lassen. Das Wort „Säuberungen“ macht die Runde. Es ist aber noch gut für Späße, der Schrecken ist noch nicht wirklich durchgedrungen, wie überhaupt manchen Scherzen dieses Romans im Laufe der Jahre immer mehr Ernst zuwuchs. In Sowjetrussland sei „das Irrenhaus der einzige Platz, wo ein normaler Mensch leben kann“, heißt es an einer Stelle.

1948 wurde „Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million“ schließlich verboten – und damit zum Klassiker der russischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Da waren die beiden Autoren aber schon lange tot. Ilja Ilf starb 1937 an Tuberkulose, Jewgeni Petrow als Kriegsreporter 1942 bei einem Flugzeugabsturz. Wolfgang Schneider

Ilja Ilf/Jewgeni Petrow: Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million.

Aus dem Russischen von Thomas Reschke.

Die Andere Bibliothek, Berlin 2013.

473 Seiten, 38 €.

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