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Kultur: Das japanische Jenseits

Eine Berliner Retrospektive des Filmemachers Hirokazu Kore-eda

Von Gregor Dotzauer

Einst, erzählt Dschuang Dsi im berühmtesten Gleichnis seines „Wahren Buchs vom Südlichen Blütenland“, habe ihm geträumt, dass er ein Schmetterling sei. Er flatterte herum, war glücklich und wusste nichts von sich und seinem menschlichen Dasein. Dann aber wachte er auf, war wieder er selbst und kam ins Grübeln: Hatte er geträumt, dass er ein Schmetterling sei, oder hatte der Schmetterling geträumt, dass er Dschuang Dsi sei? Auf den ersten Blick könnte Hiroshi Sekine, über 2000 Jahre nach Dschuang Dsi, ein Wiedergänger des taoistischen Weisen sein. „Entschuldigung“, sagt er, erfüllt von unendlicher japanischer Demut, in Hirokazu Kore-edas Kamera, „ist das hier die Wirklichkeit?“ Das Filmteam, das ihm schon eine Reihe von Besuchen abgestattet hat, kommt ihm wie ein Spuk vor, und die Anwesenheit seiner Frau scheint ihn auch nicht zu beruhigen. Nicht zu wissen, wann er sich etwas vorstellt und wann es tatsächlich passiert, macht ihn verrückt. Und sobald er für Momente erkennt, wie haltlos er durch seine Tage irrt, durchfährt ihn ein Zittern und ein Weinen. Das Leben als Traum: Er erlebt es als Alptraum.

Hiroshi Sekine ist die Gestalt gewordene Sehnsucht, nur für den Moment zu leben, und zugleich ihr abschreckendstes Beispiel. Seit einer Magenoperation, nach der man ihn fünf Wochen lang intravenös ernährte, ohne ihm Vitamine zuzuführen, leidet er am Wernicke-Korsakow-Syndrom, einer irreparablen Hirnschädigung, die den Verlust des Kurzzeitgedächtnisses zur Folge hat. Ohne das Opfer einer totalen Amnesie zu sein, ist er unfähig, Neues zu speichern. Er weiß, wer er ist, die Vergangenheit hat Identitätsstreben in sein Bewusstsein eingezogen, doch wenn er sagen soll, wie er sich das Gesicht seiner kleinen Tochter vorstellt, während er auf ihren Hinterkopf schaut, muss er passen. In diesem Sinne ist Sekine „Without Memory“, wie Hirokazu Kore-edas 1996 entstandene Dokumentation in der englischen Fassung heißt: ein Mann ohne Erinnerung, den man nun im Rahmen einer Retrospektive des 42-jährigen Filmemachers im Berliner Arsenal kennen lernen kann. (18.12., 27.12., jeweils 21 Uhr)

Im Motiv der Erinnerung spiegelt sich Kore-edas gesamtes Werk: das der Fernsehdokumentationen wie der Spielfilme fürs Kino. So obsessiv, poetisch und analytisch er es entfaltet, behandelt er auch alle verwandten Aspekte, also das Gedenken, also die Trauer, also den Tod. Doch weil in Japan die Toten den Lebenden näher sind als in Europa, erzählen Kore-edas Filme zwar von Verlust und Schmerz, kommen aber nicht feierlich und schwarz umflort daher, sondern ruhig und konzentriert und nicht selten improvisiert. Damit fallen auch die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Sein 1995 gedrehtes Spielfilmdebüt „Maboroshi“ (25.12., 21 Uhr) ist noch streng stilisiertes Kunstkino. Doch schon drei Jahre später wagt sich „After Life“ (26.12., 19 Uhr) an die Vermischung von Spielszenen und authentischen Interviews. In einem Haus auf dem Land werden gerade Verstorbene von Angestellten des Himmels empfangen, wo sie die glücklichste Erinnerung an ihr Erdenleben zu Protokoll geben sollen, um sie dann nachzuspielen und auf Film zu bannen. Welche Augenblicke da Schauspieler retten wollen und welche Alte aus dem Volk, kann der Zuschauer nicht mehr auflösen. Und „Distance“, der heute um 21 Uhr die Retrospektive eröffnet, nimmt das offensichtlich Inszenierte gegenüber dem wie beiläufig mit der Handkamera Beobachteten so weit zurück, dass diese erste Auseinandersetzung mit dem Giftgasanschlag der Aum-Sekte auf die Tokyoter U-Bahn 1995 passagenweise wie ein Dokument wirkt. Dass hier fiktive Angehörige von freiwillig aus dem Leben geschiedenen Mitgliedern der fiktiven „Ark of Truth“-Sekte den Ereignissen auf die Spur zu kommen versuchen, muss man sich immer wieder vergegenwärtigen.

Der Literaturwissenschaftler Kore-eda ist mit alledem einer der produktivsten und frischesten Regisseure der jüngeren Generation, aktiv auch als Werbefilmer und Produzent – überdies jemand, der die Auseinandersetzung mit sozialen Problemen nicht scheut. „However...“ (22.12., 19 Uhr) beschäftigt sich mit dem politischen Druck auf die japanische Sozialfürsorge, „August without him“ (20.12., 19 Uhr, 23.12., 21 Uhr) mit dem Sterben eines Aids-Patienten. So ist auch „Without Memory“ nicht nur ein Essay über die lebenswichtige Funktion der Erinnerung, sondern auch eine Abrechnung mit dem japanischen Gesundheitssystem.

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