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Kultur: Das Luder ist schuld

Die Fotografin Irene ist Anfang 20, als sie 1932 aus Guben nach Nürnberg kommt. Sie zieht in ein prächtiges Mietshaus am Spittlertorgraben: Es gehört einem Bekannten ihres Vaters, dem knapp 60-jährigen Leo Katzenberger.

Die Fotografin Irene ist Anfang 20, als sie 1932 aus Guben nach Nürnberg kommt. Sie zieht in ein prächtiges Mietshaus am Spittlertorgraben: Es gehört einem Bekannten ihres Vaters, dem knapp 60-jährigen Leo Katzenberger. Im rückwärtigen Teil des Grundstücks, mit Blick auf den Rosenaupark, steht das Büro- und Lagergebäude für die rund 30 bayerischen Filialen seines florierenden Schuhhandels. Katzenberger, einer der Honoratioren der Stadt, ist ein Bonvivant - und so ist es nicht ausgeschlossen, dass ihn ein kurzes Techtelmechtel mit der hübschen Frau verbindet. Er hofiert sie, stundet ihr die Miete, schließlich wirft ihr Fotoladen zunächst nicht viel ab. Die Nachbarn beginnen zu reden.

Nichts als eine Tratschgeschichte, möchte man meinen. Kein Thema für die Öffentlichkeit heutzutage - allenfalls verheiratete Würdenträger müssen da in arg puritanischen Gesellschaften um ihren Posten bangen. Katzenberger aber ist Jude - und so wird die private Begegnung eines Tages zur Staatsaffäre, Anlass des spektakulärsten Rassenschande-Prozesses der Nazizeit.

Schon 1935 erlässt die Partei das Blutschutzgesetz, das den sexuellen Kontakt zwischen Juden und Ariern mit bis zu 15 Jahren Zuchthaus bestraft. Da im Krieg zudem jeder zum Tode verurteilt werden kann, der die nächtliche Ausgangssperre ignoriert, wird Katzenberger im Herbst 1939 ein abendlicher Besuch bei Irene zum Verhängnis. Der nach den Novemberpogromen plötzlich mittellose Geschäftsmann fordert von der lebenslustigen Frau, die nach zahlreichen Männerbekanntschaften einen soeben an die Front einberufenen Autoverkäufer geheiratet hat, die Mietschulden zurück. Das Geld soll ihm helfen, seiner Frau Claire und den Töchtern ins rettende Palästina nachzureisen. Doch dies verhindern neue Nachbarn: Das Ehepaar Kleylein denunziert den "Schuhjuden" Katzenberger und "das Judenmensch" Irene beim Blockleiter.

In immenser Recherchearbeit hat die Journalistin Christiane Kohl vor einigen Jahren den Fall Katzenberger rekonstriert ("Der Jude und das Mädchen", als "Spiegel"-Buch bei Goldmann erhältlich). Sie schildert darin nicht nur die ausdrückliche "Freundschaft", die im März 1942 Gegenstand des Nürnberger Schauprozesses unter dem furchtbaren Juristen Oswald Rothaug wurde. Sie erhellt auch den Weg, der für Katzenberger mit der Hinrichtung und für die mitangeklagte Irene mit zwei Jahren Zuchthaus endete, durch detaillierte Berichte über die korrupte, von Julius Streicher dominierte Nürnberger Nazi-Spitze, über die Ausplünderung der Juden nach 1938 und ihre verzweifelten Versuche, letzte Schlupflöcher ins Exil zu finden. Diese Mischung aus Privatem und Politisch-Historischem, stets belegbar entwickelt, macht das Buch zu einem faszinierenden Beispiel für "Geschichte von unten".

Nun hat Joseph Vilsmaier, seit "Stalingrad", "Comedian Harmonists" und "Marlene" ein Mann mit ausgewiesen zweifelhaftem Faible für Nazi-Themen, sich auch dieses Stoffes angenommen. Unter Berufung auf Kohls Recherche macht der Film "Leo und Claire", ebenso wie seine Vorgänger, vordergründig Propaganda für das politisch Korrekte - aber eben Propaganda, als müsse man zum guten Zweck nur die Klischees umdrehen. Auf den zweiten Blick aber nährt er das Ressentiment und spricht Leo (Michael Degen) und das junge Mädchen (Franziska Petri) doch noch schuldig.

Weil im Kino mit einem nicht oder kaum sexuellen Verhältnis offenbar kein Staat zu machen ist, lädt Vilsmaier seine Bilder so penetrant wie altbacken erotisch auf, dass der fast als Voyeurs-Geisel genommene Zuschauer zumindest zum Urteil "große Liebschaft" kommen muss. Da mögen die Protagonisten noch so sehr die Unschuld ihres Verhältnisses beteuern - sie stehen vor dem Zuschauer als eben jene Lügner da, als die Richter Rothaug (Jürgen Schornagel) sie bar jeden Beweises beschimpft. Um ein perfides Juristen-Alibi nach Systemwechseln zu benutzen: Die beiden mögen nach heutigem Recht straffrei ausgehen - aber wurden sie damals nicht doch rechtens verurteilt?

Das Geschichtsklitterungs-Verfahren funktioniert verblüffend einfach. Die denunziatorische Kleinbürger-Nachbarschaft verlegt Vilsmaier, der den Schauplatz im Bavaria-Studio bauen ließ, kurzerhand in einen Hinterhof wie aus Zille sein Milljöh. Kein Zuschauer wird mit der erwägenswerten Überlegung behelligt, ob er nicht unter vergleichbaren Verhältnissen selber zum Denunzianten geworden wäre - nein, die drei exemplarischen Familien sind durchweg als arisches Gesocks überzeichnet, als ewig verdreckte, versoffene, perverse und gestörte Untermenschen. Das vorzugsweise unbekleidet am Fenster hinter fast durchsichtigen Gardinen agierende Luder namens Irene bringt so nicht nur den alten Katzenberger, sondern auch die ganze Nachbarschaft auf Trab - und als sie eines Abends nach seinem Besuch minutenlang ebenso selig wie nackig in neuen roten Spitzenschuhen in ihrer Wohnung tanzt, bleibt dem Nachbarn Steinheil wohl keine Wahl, als nach frischem Spannerglück prompt mal eben die eigene Frau zu vergewaltigen.

So funktioniert dieser Film. Er meint, die Nachbarn zu denunzieren, aber er folgert: Irene ist schuld. Der Charmeur Katzenberger wiederum - Typ guter, aber triebhafter Jude - muss sich lange Zeit nicht einmal ehelich privat rechtfertigen: Immer wenn seine Frau Claire (Suzanne von Borsody), die blasseste Titelheldin der neueren Filmgeschichte, ihn zur Rede stellen könnte, muss sich das Ehepaar plötzlich neuen politischen Unheils erwehren. Erst spät kommt es zu einer Art von Ehe-Szene - und prompt kündigt Katzenberger jenem Angestellten, der ihn bei Claire angeschwärzt hat. Damit macht nun auch er sich schuldig - gegenüber dem arischen Untergebenen - und liefert mit der heftigen Reaktion ein weiteres Indiz für die Ernsthaftigkeit des Verhältnisses zu Irene.

Erst der lange geratene Showdown im Gericht gibt den Opfern so etwas wie Würde zurück - aber da hat der Zuschauer sein Urteil längst gesprochen. "Die Juden sind unser Unglück", tönte einst Julius Streicher. Das wohl nicht, raunt Vilsmaiers Film zwischen den Bildern. Und suggeriert, sie seien zumindest schuld an ihrem eigenen Unglück.

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