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Kultur: Das Mädchen mit der Engelsstimme

Den Großen der Kunst schreibt die Legende das Leben. Wundersam, so die Fama, sei die Entdeckung der Renata Tebaldi gewesen: Als der greise Arturo Toscanini nach dem zweiten Weltkrieg nach Italien zurückkehrte und das Konzert zur Wiedereröffnung der Scala vorbereitete, drang aus dem Chor die Stimme einer jungen, kaum 24-jährigen Frau aus der Provinzstadt Rovigo.

Den Großen der Kunst schreibt die Legende das Leben. Wundersam, so die Fama, sei die Entdeckung der Renata Tebaldi gewesen: Als der greise Arturo Toscanini nach dem zweiten Weltkrieg nach Italien zurückkehrte und das Konzert zur Wiedereröffnung der Scala vorbereitete, drang aus dem Chor die Stimme einer jungen, kaum 24-jährigen Frau aus der Provinzstadt Rovigo. "Quella voce angelica!" soll der Maestro damals entzückt gerufen haben, und fortan durfte das Mädchen mit der Engelsstimme auf den Bühnen der großen Welt singen.

Die Legende hat einen wahren Kern. Denn es war der leuchtende, reine Klang ihrer Sopranstimme, der Renata Tebaldi in den 50er und 60er Jahren zum Weltstar werden ließ: beinahe ausschließlich mit dem "großen" italienischen Repertoire der Frauengestalten Verdis und Puccinis - deutsches und französisches Fach standen ihr bis zum Ende ihrer Bühnenkarriere 1973 ebenso fern wie der Canto fiorito Rossinis, wie Mozart oder auch die zeitgenössische Oper.

Die Welt Tebaldis ist die der sanften Gemüter, der unverschuldet ins Unglück Geratenen, die mit der entwaffnenden Reinheit ihrer Gesangslinien von der Reinheit ihrer Seelen künden. Ihre Desdemona, die sie (wenig glücklich) für Karajan aufnahm, ihre Mimí, ihre Liù, waren die Unschuld selbst, und sogar auftrumpfendere Frauengestalten wie Cileas Adriana Lecouvreur, Verdis Traviata und Puccinis Tosca, gewannen bei ihr ungewohnt milde Züge.

Die weltweite Popularität, die Renata Tebaldi in den 50er Jahren erlangte, hängt freilich vor allem mit dem Boom der beginnenden LP-Ära zusammen: Die geschickt aufgebaute und durch öffentlichkeitswirksame Besetzungsrivalitäten an Met und Scala genährte Konkurrenz zu Maria Callas und deren "voce demonica" war in Wirklichkeit eher ein Kampf der Schallplattenkonzerne EMI (Callas) und Decca (Tebaldi), um den neuen Markt der Operngesamtaufnahmen. Die bisweilen hektische Aufnahmeaktivität, die durch die Einführung der Stereo-Platten noch einmal forciert wurde, hat dazu geführt, dass das Rollenrepertoire Tebaldis fast vollständig dokumentiert ist. Auch wenn diese Studioaufnahmen, meist mit dem Standard-Partner Mario del Monaco, oft befangen wirken und wohl für den Vorwurf mitverantwortlich sind, Tebaldi sei eine bloße Schönsingerin gewesen.

Was die Diva auf der Bühne zu leisten vermochte, hört man besser auf Live-Mitschnitten wie ihrer legendären Met-Tosca von 1956 unter Leitung von Dimitri Mitropoulos. Da begegnet einem eine Sängerin, die bei aller Stimmschönheit nie die Suggestionskraft des theatralischen Moments aus den Augen verliert. Eine Qualität, die offensichtlicher wurde, als der einst so schlackenlos schöne Tebaldi-Sopran Schärfen zu zeigen begann und die Höhen nicht mehr so mühelos strahlten.

In ihren späten Jahren wurde Tebaldi zur Ausdruckssängerin und ersetzte die sanfte Noblesse der frühen Glanzzeit durch sängerdarstellerisches Charisma und eine bittere Majestät ihrer Rollenporträts. Seit ihrem Bühnenabschied und dem Rückzug aus dem Ensemble der Metropolitan Opera, dem sie über 18 Jahre angehört hatte, lebt Renata Tebaldi zurückgezogen in Mailand. Heute wird sie 80 Jahre alt.

Jörg Königsdorf

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