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Kultur: Das Mittelalter im Kesselraum

Im Dämmerlicht des alten Industriebaus,zwischen Rohrleitungen und Manometern, wirken die Reste einer Roland-Figur aus Stendal oder der weiße Abguß einer klassischen Venus wie Fremdkörper.Sie dienen als Blickfang einer Ausstellung über die mehr als tausendjährige Geschichte von Sachsen-Anhalt.

Im Dämmerlicht des alten Industriebaus,zwischen Rohrleitungen und Manometern, wirken die Reste einer Roland-Figur aus Stendal oder der weiße Abguß einer klassischen Venus wie Fremdkörper.Sie dienen als Blickfang einer Ausstellung über die mehr als tausendjährige Geschichte von Sachsen-Anhalt.Ihr Titel lautet: "mittendrin".

Der Ort der Ausstellung ist ungewöhnlich.Sie findet in den acht mal acht Meter großen und zwanzig Meter hohen Brennkammern der Kessel des ehemaligen Kraftwerks Elbe in Vockerode statt.In die Brennkammern wurden dafür Türen gebrochen und Böden eingezogen.Aber die verrußten Schamotte-Wände blieben, auch die Siederohre.

Das DDR-Besuchern und Transit-Reisenden durch die vier 140 Meter hohen Schornsteine erinnerliche Kraftwerk, Einheimische nannten es die "Rote Wolke", ist seit Oktober 1994 abgeschaltet.Die Stromfabrik war im Rahmen des NS-Vierjahresplans 1937/40 zur Versorgung von Rüstungsbetrieben in Dessau und Wittenberg errichtet und nach dem Krieg demontiert worden.Die DDR begann 1953 mit dem Wiederaufbau.Das Kraftwerk hatte zuletzt eine Leistung von 384 Megawatt.

Vockerode ist jetzt Industriedenkmal.Die Veranstalter von "mittendrin" wollen mit der Ausstellung zu seiner Erhaltung beitragen: die Expo 2000 Sachsen-Anhalt investierte dazu rund 3,5 Millionen Mark und holte sich die Macher der Ausstellung "Feuer und Flamme - 200 Jahre Ruhrgebiet" (1994 und 1995 im stillgelegten Gasometer Oberhausen mit zusammen fast einer Million Besucher).

Der Faszination des Kraftwerk-Baus kann man sich schwer entziehen.Für Gottfried Korff (Tübingen) verkörpert Vockerode "Geschichte im Stillstand" und gibt Gelegenheit, historische Brüche und Verwerfungen sichtbar zu machen.Dabei überrascht, wie viele solcher Brüche es in der kleinen Region zwischen Harz und Fläming und beiderseits von Elbe und Saale gab.Drei der zwölf (Kessel-)Räume sind dem Mittelalter gewidmet.Es folgen mit drei weiteren Brennkammer-Installationen die Reformation, der Pietismus in Halle und die "angewandte Aufklärung" von Fürst Franz in Dessau (1740 - 1817).Sechs weitere Abteilungen zeigen die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im 18.und 20.Jahrhundert bis zur NS- und SED-Herrschaft.

Schwierigkeiten gab es bei der Beschaffung der zum Teil sehr kostbaren Leihgaben aufgrund von Vorbehalten gegen den Ausstellungsort.Dabei befinden sich wie überall Vitrinen, auch für das eigens für "mittendrin" restaurierte "Abendmahl" von Lucas Cranach von 1565 aus Köthen oder die vielen Urkunden oder Erstdrucke.Wenn im Ausstellungsabschnitt "Neuzeit" der Zuckerrübenanbau in der Magdeburger Börde dargestellt wird, so schockiert, daß das Auschwitz-Gas "Zyklon B" aus den "Werken für die Zucker- und chemische Industrie" in Dessau kam.Im Vergleich mit der jüngsten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt (SPD 35,9, CDU 22, PDS 19,6 und DVU 12,9 Prozent) macht die Darstellung der Wahl vom April 1932 im Freistaat Anhalt nachdenklich: NSDAP 40,9, SPD 34,2 und KPD 9,3 Prozent.Diese "Nazifizierung der Provinz" führte zur ersten NS-geführten Landesregierung in der Weimarer Republik.Zu den finsteren Seiten der Nazi-Epoche gehörten auch die Himmler-Verehrung für König Heinrich im Dom zu Quedlinburg und die Ermordung von 9000 Menschen in der Heil- und Pflegeanstalt von Bernburg 1940/41 im Rahmen der Euthanasie.

Die Ausstellung "mittendrin" in Vockerode kann man auf zwei Wegen betreten: ebenerdig durch die Maschinenhalle oder über einen "Erlebnispfad", der nichts für Ältere ist.Man klettert über die hundert Meter lange Schrägbandbrücke auf das vierzig Meter hohe Kesselhaus-Dach.Aus den verstaubten Fenstern sollte man dabei besser nicht sehen: die 18 Grad Neigung verwirren den Gleichgewichtssinn, wenn die doppeltürmige Kirche von Vockerode plötzlich schief steht.

Schade ist, daß bei der zweiten Demontage des Kraftwerks nicht wenigstens eine Turbine übrigblieb.Die beiden Lokomobile mit Kipp-Pflug oder das "Plaste und Elaste"-Transparent von der Autobahnbrücke sind ein unbefriedigender Ersatz.

"mittendrin: Sachsen-Anhalt in der Geschichte", Ausstellung im ehemaligen Kraftwerk Vockerode, bis 13.September; Katalog 29,80 Mark.Informationen: Telefon 03 39 05-41 00 (Hotline) oder 03 91-7 38 43 33 (Tourismus Sachsen-Anhalt GmbH).

PETER NÖLDECHEN

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