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Kultur: Das Monster Freiheit

Uraufführung in Wien: „Das purpurne Muttermal“ von René Pollesch – eine Theaterreise ins Kino

„Do I want to escape?“ In altdeutschen Lettern gemalt, prangt diese Frage über dem Interieur eines großbürgerlichen Salons des 19. Jahrhunderts, wo das Feuer im offenen Kamin glimmt und soeben ein Ehepaar in verschnörkelten Barockmöbeln wie auf Samtpfoten Platz genommen hat. Martin Wuttke, mit zierlichem Clark-Gable-Bärtchen, schält spitzfingrig eine Orange, während ihm Sophie Rois im hellblauen Satinabendkleid und mit blonder Langhaarperücke etwas kurzatmig aus ihrem Brief vorliest: „Mutter, wir sind von unserem Leben getrennt!“

Paradigmatisch erscheint dieser Satz am Beginn eines Abends, der sich alsbald als Offenlegung der Illusionsmaschinerien von Theater, Film und Fernsehen entpuppt, als rasantes Spiel um Sein und Schein. Alles nur Fake: Denn hinter der betont billig gezimmerten Kulisse von Bert Neumann verbirgt sich ein Filmstudio, in das die Salondame Rois flüchtet. Dort landet sie als neurotisch-exaltierte Filmdiva auf der Freud-Couch, kreischt: „Ich bin Hans Moser!“ und verliebt sich in einen Schimpansen. Über dem gutbürgerlichen Kamin prangt ein Videoscreen als magisches Auge, das den Zuschauer mittels Liveprojektion hinter die Kulissen blicken lässt, wo das Als-ob-Spiel der Bühne im vorgestellten „realen Leben“ seine Fortsetzung findet, das auch nichts anderes als Rollenverteilungen im neoliberalen Existenzkampf bereithält.

„Das purpurne Muttermal“ heißt René Polleschs neueste Theaterarbeit, die er in einer Zusammenarbeit zwischen den Volksbühnenschauspielern Sophie Rois und Martin Wuttke sowie Ensemblemitgliedern des Burgtheaters am Wiener Akademietheater uraufgeführt hat: Caroline Peters, changierend zwischen den Rollen einer arbeitslosen Schauspielerin in kecker Dienstmädchenmontur (Kostüme: Janina Audick) und eines Schimpansen, ist die dritte in der gattungsübergreifenden, an Georges Feydaus Ehe-Farcen erinnernden Dreiecksgeschichte, die Martin Wuttke als Ehemann in verwirrende Verzweiflung treibt.

Hermann Scheidleder zieht als Regisseur Erich von Stroheim hinter den Kulissen die Fäden, interviewt Sachiko Hara über ihre Lektüre von Thomas Bernhard, bis sie sich in ein Monster mit tiefer Männerstimme verwandelt, das augenrollend im Bett verendet. Daniel Jesch als liebeskranker Drehbuchschreiber und Stefan Wieland als stichwortgebendes Fräulein Schober ergänzen das spielfreudige, Genregrenzen sprengende Ensemble, das auch einmal auf einem weißen Vierziger-Jahre-„Morris“ in voller Fahrt herumturnt: Das Video einer Straßenfahrt im Hintergrund macht’s möglich.

Wie bereits in „L’affaire Martin“, Polleschs vorangegangener Arbeit im Guckkasten der Berliner Volksbühne, dient ihm die Feydau’sche Komödienmaschinerie nur als Ausgangspunkt zu einer Selbstbefragung der medial vermittelten Welt und zu einer Hinterfragung des diszipliniert-dissoziierten Individuums in der postkapitalistischen Entfremdung. Als „Sehhilfen für die Wirklichkeit“ dienen ihm eingestreute Theoriebrocken des italienischen Philosophen Giorgio Agamben und der amerikanisch-feministischen Biologin Donna Harraway. Deren Kritik am uneigentlichen Sprechen und an der Sprache als Herrschaftsmittel trifft in variantenreichen Loops auf Slapstickkomik mit Bühnennebel und Windmaschine und auf dialektisch eingewobene Filmzitate: Sei es Ingmar Bergmans „Herbstsonate“, deren sanfter Konversationston Polleschs schillerndes Diskursgebäude eröffnet, sei es „Max, mon amour“, worin sich Charlotte Rampling in einen Affen verliebt, oder „Der Millionär“, worin Hans Moser zu unverhofftem Geldsegen gelangt.

Die Darsteller wechseln fließend Rollen und geschlechtliche Identitäten, mutieren sogar zu Tieren, changieren zwischen Salonkomödie und Filmset-Szenerie, wo sie auch in ihrer (scheinbar?) realen Darstellerexistenz zur Selbstbefragung innehalten. Erst im verstörenden Close-up gerät das unendliche Sprechen ins Stocken: „Man kann doch nicht dauernd so tun als ob, es ist alles so verwirrend“, sagt Wuttke, wankend im Angesicht der Gleichzeitigkeit verschiedenster Kausalitäten, durch die die Lebendigkeit wahrhaftiger Kommunikation unterzugehen droht.

Wäre da nicht das Theater, dessen Unmittelbarkeit Pollesch an diesem seit langem gelungensten Burgtheaterabend in einer schillernden Mischung aus Komik und Ernst, Tragik und Leichtigkeit beschwört. An dieser traumfabrikkritischen und gleichzeitig spielverliebten, heiteren Inszenierung wurde Theodor Adornos Diktum greifbar, wonach Kunst „Freiheit inmitten der Unfreiheit“ verkörpere: als Moment des Entronnenseins aus den Zwängen der Selbsterhaltung in die Diskursklamotte.

Christina Kaindl-Hönig

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