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Schweiger in der Wüste. U2 machen seit 39 Jahren gemeinsam Musik.

© Anton Corbijn

Das neue Album „Songs of Experience“: U2 feiern die Spiritualität

Synthiesounds und Rock'n'Roll-Fantasia: Mit ihrem neuen Album „Songs of Experience“ liefern U2 Kampflyrik für düstere Zeiten.

Von den Arenabühnen dieser Welt aus betrachtet sieht das, was vor einem liegt, wie eine einzige große Einladung aus. Eine für einen Superstar wie Bono verlockende Einladung: all die Menschen, die da jubeln und glücklich sind, in Bewegung zu setzen, aufstehen und rausgehen zu lassen, damit sie in der Wirklichkeit da draußen das Richtige tun. So in etwa dürfte der U2-Sänger das sehen, wenn er auf dem neuen Album „Songs of Experience“ von der plötzlichen Finsternis eines Blackouts singt, dem absoluten Albtraum jeder Rockband. Kein Saft mehr, alles dunkel. Was einen aber dann zwinge, dem eigenen Licht zu folgen, „the light that we can really be“.

Lichtmetaphern finden sich reichlich auf dem 14. Studioalbum der irischen Band. Sie will „Songs of Experience“ nicht nur als Fortsetzung des Vorgängers „Songs of Innocence“ verstanden wissen, sondern als „call to action“, wie Bono singt. Denn finstere Zeiten seien angebrochen. Als notorischer Optimist hat er wenig übrig für Schwarzmalerei, aber nun sieht er Statuen stürzen, die Demokratie wehrlos daniederliegen. Und ein Großmaul sage den Leuten: „They don’t wanna be free for free“. Klar, wer gemeint ist?

In seiner Fantasie wünscht sich der Sänger in die Luft gerissene Hände zu sehen, die den Himmel halten, vermutlich auch noch rhythmisch klatschend und Feuerzeuge entzündend, als würde in Konzertbesuchern die politische Energie stecken, die Widerstandsbewegungen in ihren Barrikadenkämpfen entfesseln. Das ist natürlich ein schlimmer Irrtum. Aber das ist nicht der Grund, warum „Songs of Experience“ das Album ist, das U2 besser niemals veröffentlicht hätten.

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Seit nunmehr acht Jahren touren die Iren praktisch ununterbrochen um den Erdball. In dieser Zeit haben sie Maßstäbe gesetzt, in ökonomischer Hinsicht, fürchteten aber zunehmend, irrelevant zu werden. Ein erstes Albumprojekt, das von Pilgerreisen inspiriert sein sollte, brachten sie nicht zu Ende, gerieten in eine kreative Krise und landeten 2014 mit „Songs of Innocence“ einen überraschenden Coup, als sie das Album exklusiv an Apple verkauften. Es holte viel von seinem Schwung aus Bonos Beschäftigung mit allem, was ihn in seiner Jugend geprägt hatte – der traumatische Tod seiner Mutter, als er 14 Jahre alt war, die Musik der Ramones und von The Clash, die Rangkämpfe auf den Straßen Dublins in den 70er Jahren, Kalifornien, wohin die Band für ihre erste Erneuerung ging, um das „Joshua Tree“-Album aufzunehmen.

Obwohl das Experiment gescheitert war, sich von Produzent und Wunderheiler Danger Mouse einen Sound für die Zukunft verpassen zu lassen, tat ihnen der persönliche Blick in die eigene Vergangenheit gut. Die U2-typische Rockrezeptur des hymnischen Hallraums funktionierte, etwa bei „Song for Someone“, die Balance zwischen Gitarrist The Edge, Adam Clayton am Bass und Drummer Larry Mullen Jr. war gewahrt.

Mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und dem britischen Brexit-Entscheid hat sich das Ende 2016 geändert. Die Band zog das bereits fertiggestellte „Experience“-Album erst mal wieder zurück. Sie wollte, wie The Edge es ausdrückte, die politische Situation überdenken, um herauszufinden, ob sie vielleicht Wichtigeres zu sagen hätte. Bono empfand es so, dass der Populismus der Welt ihre „Unschuld“ geraubt habe, wie er gegenüber dem „Rolling Stone“ gestand. Und er weiß, dass er sich als Popstar angesichts dieser Entwicklung in einer vertrackten Situation befindet. „I lie for a living“, singt er in „The Showman“ davon, dass er ja auch nur ein gewerbsmäßiger Verführer ist, dessen Lügen aber vom Publikum in Wahrheit verwandelt würden, wenn es mitsingt. Sollte man einem wie ihm also mehr trauen als den politischen Demagogen?

Bono hat darauf keine Antwort. Ein Jammer. Allerdings würde ein mögliches „Wir sind besser als die“ ziemlich unglaubwürdig wirken nach den jüngsten Enthüllungen in Sachen Paradise Papers, die auch seine eigenen Steuertricks mit Briefkastenfirmen in Malta ans Tageslicht brachten. Vorsichtshalber hat er deshalb auf Interviews verzichtet. So bleiben die Sätze des Rappers Kendrick Lamar auf dem neuen Album unkommentiert, mit denen er seinem Zorn über die Superstars und Stinkreichen Luft macht. „Gesegnet seid ihr“, sagt er, „dass ihr nur besitzen könnt, was ihr fortgebt, etwa euren Schmerz.“

The Edge und seinen Kollegen droht die Sache zu entgleiten

Um Schmerz geht es auch Bono. Er fühlt sich an dem Punkt, nach dem Wert seiner Erfahrungen zu fragen, wem sie nützen und weiterhelfen könnten, und fündig wird er vor allem in seinem direkten Umfeld, der Familie. So stellt er sich die neuen Songs als Briefe vor. Oder als Zwiegespräche mit einem anderen Selbst, seinem jüngeren Ich. Während also da draußen die alten moralischen Koordinaten verwischen, besinnt sich der weitgereiste Star auf die „little things“. Etwa wenn er seiner von Liebeskummer bedrückten Tochter sagt, dass er ihr helfen würde, wenn er könnte, „I can help you, but it’s your fight“.

The Edge und seine Kollegen haben den Weltrettungsgestus ihres Sängers eigentlich immer ganz gut unter Kontrolle gehabt. Aber nun droht ihnen die Sache zu entgleiten. Was nur eine weitere Folge davon ist, dass die Band nichts Rechtes mehr mit sich anzufangen weiß und ganz zufrieden mit dem Selbstbeschäftigungsprogramm ist, das sie sich als Dauertourmonster auferlegt hat. Zwar wurde es U2 durch die Verzögerung möglich, die „Songs of Experience“ live zu überarbeiten, aufs Wesentliche zu reduzieren, wie Bono sagt. Doch die Band hat nicht die Songs geschmiedet, die einen bewegen könnten, etwas anderes zu denken, als dass es schnell vorbei sein möge. Bonos Gestus als Motivator („free yourself to be yourself“) steht auch diesbezüglich auf verlorenem Posten.

Auf der Suche nach Dingen, die einen wappnen, landet U2 diesmal auffallend oft bei der Liebe, „Love is all we have left“, lautet die doppeldeutige Zeile des mit sphärischen Synthiesounds umwölkten Openers. Später heißt es, dass alles, was aus den Musikern geworden sei, sie ihren wundervollen Frauen verdankten („You’re the Best Thing About Me“). Dann ist da die Erinnerung an 1967 und den Blumenkinderaufstand („Summer of Love“), schließlich die Unerschrockenheit des Wellenreiters, der sich in die Brandung stürzt („Red Flag Day“).

Amerika ist ein Sound, ein Lebensgefühl

Wer darin Anklänge an frühere U2-Songs hört, etwa „Every Breaking Wave“ oder „With Or Without You“, liegt nicht falsch. Der Grad des Selbstzitats nimmt hier bedenkliche Ausmaße an: „13“ greift den Refrain von „Song For Someone“ sogar gänzlich unverändert auf.

Nur „American Soul“ sticht in seinem Furor heraus aus dem Reigen belangloser Ertüchtigungen. In dieser rauen, zupackenden Ode an den Rock’n’Roll trifft U2 den Ton. Aufwühlend, energisch. Immerhin geht es den Musikern um ihre „Heimat“. Denn Amerika sei kein Ort, heißt es da, sondern Sound, ein Lebensgefühl, „ein Traum, der der ganzen Welt gehört“. Ein Rock’n-Roll-Fantasia gewissermaßen. Dass sich globale Wanderungen in dessen Seele geschrieben haben, das mache heute aus jedem Migranten in den USA einen Pilger, einen Rock’n'Roller, einen „Refu-Jesus“, wie Bono singt.

In dieser Überblendung der Motive zeigt sich das Dilemma des Pop, die Aufwiegelung der Massen mit ihren eigenen Argumenten schlagen zu wollen. Man kann sich gut vorstellen, wie U2 bei künftigen Konzerten auf diesen Moment der großen Versöhnung zusteuern. Hände in den Himmel gereckt.

Das ist die eigentliche Botschaft von „Songs of Experience“: Erwarte keine Hilfe von einem, der „Lichter vor sich sieht“. Auch wenn er glaubt, dass sie ihn „nach Hause“ führen. Es könnten bloß die Rücklichter der Autos vor ihm sein.

„Songs of Experience“ erscheint am Freitag bei Universal.

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