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Zwanzig Jahre deutsche Popgeschichte. Dirk von Lowtzow, Rick McPhail, Arne Zank und Jan Müller sind Tocotronic. Am Freitag erscheint ihr zehntes Studioalbum, am Sonntag spielen sie zum Tourauftakt im ausverkauften Berliner Lido.

© Universal

Das neue Tocotronic-Album: Hey, wir sind jetzt alt

Zum 20. Gründungsjubiläum schenkt sich die Band Tocotronic ein neues Album. Ist "Wie wir leben wollen“ wirklich das lang erwartete Meisterwerk geworden? Sind die Texte noch so gut wie früher? Und wie steht es um die musikalische Qualität der 17 Songs? Ein Pro und Contra.

Als es im vergangenen Jahr hieß, dass es bald ein neues Tocotronic- Album geben werde, löste diese Nachricht nicht gerade ein Erdbeben in der Popwelt aus. Dafür gibt es Tocotronic zu lange, seit 1993, dafür sind seitdem ihre Alben musikalisch nurmehr Variationen und Verfeinerungen des schrundig- melodiösen Rocksounds, für den sie im Verein mit ihren tollen Popslogans so geliebt werden. Und dafür ist der theoretische Überbau der ursprünglich aus Hamburg kommenden Band zu oft analysiert worden – von wegen Diskurspop, Hamburger Schule, Bildungsbürgerrock etc.

Wenn dann die vier Bandmitglieder, die inzwischen alle um die 40 sind, dieser Tage nun von allen Titelbildern der noch halbwegs maßgeblichen Musikmagazine von „Spex“ bis „Rolling Stone“ herabschauen, ist das die ultimativ-sprichwörtliche Rollingstonisierung einer ehemals überwiegend sehr junge Erwachsene ansprechenden Band. Vorbei kann zwar niemand an ihnen, aber popmusikalische Maßstäbe setzen sie keine mehr.

Ja, und nach dieser kleinen Vorrede muss man sagen: „Wie wir leben wollen“ ist ein entzückendes Meisterwerk! Und die Zeit ist schon längst reif dafür. Das beste Tocotronic-Album seit..., nein, vielleicht ist es ihr bestes Album überhaupt. Mit 17 Titeln erscheint es zunächst zu lang, wächst aber mit jedem weiteren Hören und hat keinen Ausfaller. „Wie wir leben wollen“ klingt unwahrscheinlich abwechslungsreich und doch wie aus einem Guss, hat den schnellen Hit genauso in petto wie schwelgerische Epen, die zackige Nummer wie das geradezu hingehauchte, hingetupfte Midtempo-Stück.

Die Songs klingen wärmer und organischer als sonst, was auch daran liegt, dass sie größtenteils mit analogem Equipment aufgenommen und nur sparsam elektronisch verziert worden sind. Auch mit dem lyrischen Ich von Sänger und Texter Dirk von Lowtzow lässt sich gut leben, zumal von Lowtzow so schön, hell und gefühlsbetont noch nie gesungen hat. Seine Stimme und die Musik der Band schmiegen sich wunderbar aneinander. „Worte werden Waffen sein“, heißt es einmal. Es sind zwar oft mehr Schreckschüsse und betont unvulgäre Verse aus dem vulgären Leben. Dieses bekommt von Lowtzow trotzdem hin und wieder präzise zu fassen. So in dem munteren Eröffnungsstück „Im Keller“, in dem heißt: „Hey, hey, ich bin jetzt alt / Hey, hey, bald bin ich kalt / Im Keller wartet schon der Lohn / Ich war keiner von den Stars / Ich war höchstens Mittelmaß / Doch schwere Arbeit war es nicht für mich/ Hey, hey, ich ich habe nichts gewollt / Hey, hey, das Glück hat mich gewollt, im Keller wartet schon mein Lohn.“

Hier die Midlife-Crisis, dort das Slacker-Phänomen, so geht es eben vielen ehrgeizlosen Bürgerkindern. Und es ist dann jedoch nicht die Leiche des Sängers, die im Keller liegt, sondern eine neue Version seiner selbst, die dort mit ein wenig Hilfe (kleinen Küsschen, Liebe) neu gestartet wird. Man könnte es auch so sagen: „Wir wir leben wollen“ hat mehr von Blumfelds „So lebe ich“ als von Peter Sloterdijks „Du musst dein Leben ändern.“

Natürlich ist das hier manchmal alles auch passioniert morbide, düster-romantisch. Und natürlich weiß man nicht immer, ob von Lowtzow immer weiß, was er da so genau zusammenreimt. Wenn er etwa Camus’ „Mensch in der Revolte“ mit den Virenrevolten seines Körpers kurzschließt. Wenn er aus dem „Pfad der Dämmerung“ den „leuchtenden Pfad der Dämmerung“ macht („Sendero luminoso“ war eine der schlimmsten Guerillatruppen Lateinamerikas). Oder wenn er „jeden Tag aufs Neue Litaneien wälzen“ muss.

Aber die Sprache von Pop sollte ja nicht immer nur simpel sein, in der darf es schon mal schwiemelig-schief und verkünstelt zugehen, die braucht das „Antidot für Anekdoten“. Oder noch besser gesagt: „Ich bin anders als die anderen“. Tocotronic sind das selbst 2013 noch, mit diesem wirklich feinen Popalbum, auf das auch diese Zeile gut passt: „Ich habe mehr als 1000 Seiten, / ich bin ein ganzer Ozean, / im Rhythmus der Gezeiten / biete ich dir meine Liebe an“. Ihre Liebe, so viel ist sicher, dürfte mit Alben wie diesen die nächsten 20 Jahre von ihren Fans stürmisch erwidert werden. Gerrit Bartels

Au weia. Auf ihrer Website haben Tocotronic „99 Thesen“ zu ihrem neuen Album „Wie wir leben wollen“ veröffentlicht. In ihnen geht es darum, wie sie, nun ja, leben wollen: „Anders als die Andern“, „als unwissende Lehrmeister“, „plüschophil“, „nach Erdbeer riechend“ oder „als Spione in den Rohren“. Ein ähnliches Blendfeuerwerk hatte die teils in Hamburg, teils in Berlin ansässige Band bereits zu früheren Veröffentlichungen abgefeuert. Erinnert sei an das krude „Manifest“ zu ihrer vorletzten, ziemlich großartigen Platte „Kapitulation“. Die Thesen sind aus den Texten der 17 Songs des neuen Albums kompiliert, das am Freitag herauskommt.

Den 1:1-Realismus und die heitere Parolenseligkeit ihrer frühen Jahre haben Tocotronic längst hinter sich gelassen. Ihre ins Esoterische driftenden Lyrics stellten die Fans zuletzt vor harte Dechiffrierarbeit, doch der alte Humor blitzte immer wieder mal auf. So wurde auf dem Album „Schall & Wahn“, dem 2010 erschienenen Abschluss der „Berliner Trilogie“, inständig vor dem Do-it-yourself-Trend gewarnt: „Wer zu viel selber macht / Wird schließlich dumm / Ausgenommen Selbstbefriedigung“.

„Wie wir leben wollen“, dessen hellbraunes Cover an den Pappkarton-Purismus früher Ton-Steine-Scherben-LPs erinnert, ist eine weitgehend humorfreie Zone. Es reicht noch zu einem müden Wortspiel wie „Ein Drink des Himmels“ oder, in der ersten Single-Auskopplung „Auf dem Pfad der Dämmerung“, zu einer Zeile wie „Meine Karte halte ich verkehrt herum“, die den alten Dada-Ratschlag variiert, dass man sich bei einer Wanderung durch die Vogesen am besten mit eine New Yorker Straßenkarte orientiere. Ansonsten geht es in den Songs eher introspektiv bis kryptisch zu, es wabert weihevoll, was damit zu tun haben könnte, dass „Wie wir leben wollen“ als Großalbum zum 20-jährigen Bandjubiläum angekündigt worden war.

„20 Jahre sind eine lange Zeit / Doch sollte man nicht kleinlich sein / Als lebender Leichnam glaube ich daran: / The Show must go on“, sprechsingt Dirk von Lowtzow in „Vulgäre Verse“ – einem der schönsten Stücke der Platte – zu Banjogezirpe und einer melancholisch brummenden Kirmesorgel. Überhaupt scheinen Selbstzweifel, Altersängste und Todesfantasien an dem Sänger zu nagen. Das Auftaktstück „Im Keller“ beginnt der 41-Jährige mit dem Reim „Hey, hey, ich bin jetzt alt /hey, hey bald bin ich kalt“, später sieht er sich wie Marie Antoinette auf der Guillotine liegen und lässt menschliche Replikanten wie in dem Science- Fiction-Film „Die Körperfresser kommen“ auferstehen. Dazu passt das Video zu „Auf dem Pfad der Dämmerung“, das eine Teenagerin wie aus der Fernsehserie „Buffy“ bei der Vampirjagd zeigt. Bei den Refrains wird von Lowtzows Stimme grundsätzlich mit Hall unterlegt, was sie noch dunkler und unheilvoller klingen lässt. „Wie wir leben wollen“ ist das Gruftalbum in der Tocotronic-Diskografie.

Seitdem mit Rick McPhail 2005 ein zweiter Gitarrist zu der Band stieß, haben Tocotronic ihren Rocksound immer weiter verfeinert. „Wie wir leben wollen“, das der Produzent Moses Schneider mithilfe einer Vierspur-Tonbandmaschine aus dem Jahr 1958 in einem Studio auf dem Tempelhofer Flughafengelände aufgenommen hat, zerfällt musikalisch in zwei Teile: eine rockistische, wuchtigere erste Hälfte und eine psychedelisch ausschweifende, stärker Pop-orientierte zweite Hälfte. Die Klanginnovationen ereignen sich auf der Mikroebene: die Pedal-Steelguitar auf „Chloroform“, das endlos ausufernde Feedbackgetöse auf „Warm und Grau“, das Honkytonk- Piano auf „Neutrum“.

Aber kaum eine Melodie ist wirklich catchy, es fehlt den Songs an Durchschlagskraft und Dringlichkeit. „Wie wir leben wollen“ ist keine schlechte Platte. Aber für ein Tocotronic-Album ist „nicht schlecht“ zu wenig. Pure Selbstbeweihräucherung darf niemals siegen. Christian Schröder

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