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Kultur: Das philosophische Komplott Scharfsinn und Paranoia: Eine Briefsammlung dokumentiert Rousseaus Streit mit David Hume

Es hätte das Ende einer jahrelangen Flucht werden sollen. Nach seiner Vertreibung aus der Schweiz lernte Rousseau bei einem Aufenthalt in Paris den schottischen Philosophen und Botschaftssekretär David Hume kennen.

Es hätte das Ende einer jahrelangen Flucht werden sollen. Nach seiner Vertreibung aus der Schweiz lernte Rousseau bei einem Aufenthalt in Paris den schottischen Philosophen und Botschaftssekretär David Hume kennen. Hume versicherte ihm, dass er in England mit größerer Toleranz rechnen könne als in Frankreich, wo er seit der Konfiszierung seines „Émile“ als Verbannter galt. Rousseaus einflussreiche adlige Freunde unterstützten den Plan eines englischen Exils, und so reiste er Anfang 1766 in Begleitung Humes nach London. Bereits ein Jahr später brach er erneut auf – enttäuscht von England, verfeindet mit Hume, dem er vorwarf, ihn in eine Falle gelockt zu haben. Das Zerwürfnis selbst bildet nur den Kern der „cause célèbre“, zu der sich viele Zeitgenossen geäußert haben. Von den Pariser Gönnerinnen Rousseaus – der am 28. Juni vor 300 Jahren geboren wurde – bis zu Humes Freunden in der Londoner Gesellschaft, die vergeblich versuchten, ihm die englische Mentalität nahezubringen, wird hier das ganze soziale Netzwerk der beiden Philosophen sichtbar. Es ist diese Vielfalt der Stimmen, die die von Sabine Schulz herausgegebene, mit Zeitdokumenten komplettierte Briefsammlung „Leben Sie wohl für immer“ kulturhistorisch so interessant macht. Streckenweise liest sich die berühmte Affäre wie ein Briefroman.

Bald nach der Ankunft in London, bei der Rousseau wie ein Medienstar gefeiert worden war, erstaunte er Hume mit der Bitte, ihm bei der Suche nach einem Ort auf dem Lande behilflich zu sein, wo er – wie in der Schweiz – ein zurückgezogenes, naturnahes Leben führen wollte. Wooton, umgeben von den Hügeln und Wäldern der Grafschaft Derbyshire, entsprach zwar seinen Vorstellungen – aber das Klima war ihm zu feucht, die Leute, die ihn „Mr. Ross Hall“ nannten, waren ihm zu reserviert. Auf Hume in London angewiesen, über den seine Korrespondenz lief, genügte ein einziger geöffneter und wieder versiegelter Brief, um sein ohnehin geringes Vertrauen zu seinem Gastgeber zu zerstören. Zur gleichen Zeit erschien im Londoner „St. James’s Chronicle“ ein fingierter, leicht als Satire zu erkennender Brief Friedrichs II., der dem verfolgten Philosophen ein sorgenfreies Leben in Preußen versprach und vertraulich hinzufügte: Wenn ihm aber danach sei, „neues Unglück heraufzubeschwören“, werde er ihm auch dabei – mit der Macht eines Königs – behilflich sein. Rousseaus anfängliche Gelassenheit wich, als er erfuhr, dass der Urheber mit Hume befreundet war: der Schriftsteller Horace Walpole hatte im Pariser Salon von Madame Geoffrin aus einer Laune heraus Rousseaus affektiertes, schwieriges Wesen persifliert. Dass daraus überhaupt ein Brief entstanden war, der immer weitere Kreise zog, schien Rousseaus Verdacht zu bestätigen, dass seine alten Gegner, die Philosophen Voltaire und d’Alembert, ihre Hände im Spiel hatten. Nur gab es kein gegen ihn gerichtetes Komplott, wie er argwöhnte. Nachdem deutlich geworden war, wie viel Stoff Rousseaus Verhalten für Witze bot, versuchte der „Chronicle“ eine Zeit lang, das Interesse an seiner Person wachzuhalten – mit Anspielungen wie: „Lassen Sie sich von englischen Zeitungen nicht verrückt machen!“ Hume hingegen hatte die Absicht, vom englischen König eine Pension für ihn zu erwirken, er sah sich – auch um des eigenen Prestiges willen – in der Rolle eines Vermittlers.

Umso größer war Humes Ernüchterung, als Rousseau ihn in langen Briefen, die Anklageschriften glichen, mit bestechendem, aber ans Paranoide grenzenden Scharfsinn bezichtigte, von Anfang an mit seinen Pariser Feinden den Plan verfolgt zu haben, ihn in Misskredit zu bringen. Der düpierte Hume erinnerte sich seines ersten Eindrucks von Rousseau: dass er „wenig philosophiert, sein ganzes Leben lang nur gefühlt“ habe. Er erinnerte sich auch an die Warnungen der Pariser Philosophen, er werde mit Rousseau nicht bis Calais kommen, ohne mit ihm in Streit zu geraten. Um seinen Ruf besorgt, wandte er sich jetzt an sie und überließ ihnen den gesamten Briefwechsel, ergänzt durch eine ausführliche Chronik der Ereignisse aus seiner Sicht.

Wenige Wochen, nachdem Humes Gegendarstellung zugleich in Paris und London erschienen war, brach Rousseau in Richtung Frankreich auf. Der soziale Schaden, den der Streit angerichtet hatte, war für ihn beträchtlich: Nahezu alle, die ihm den Weg nach England geebnet hatten, zogen sich von ihm zurück. Aber er verließ Wooton keineswegs mit leeren Händen: Es ist eine seltsame, für Rousseau äußerst bezeichnende Pointe, dass gerade dort die erste Hälfte der „Bekenntnisse“ mit seinen Jugenderinnerungen entstanden ist – unter Umständen, über die er selbst sagt: „Wenn ich den Frühling zeichne, muss Winter um mich sein.“

„Leben Sie wohl für immer“. Die Affäre Hume-Rousseau in Briefen und Zeitdokumenten. Hgg. von Sabine Schulz, übersetzt von Isolde Linhard u.a.. Diaphanes, Berlin 2012. 420 S., 29,90 €.

Rolf Strube

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