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Kultur: Das Pompeji der Dinge

Sie wollte politisch sein und wurde witzig, poetisch und manchmal elegisch. Heute geht die Documenta 11 zu Ende. Mit einem Besucherrekord

Von Peter von Becker

Sie ist entgegen manchen Erwartungen zum größten Publikumserfolg geworden. Wenn heute Abend in Kassel die elfte „Documenta“ zu Ende geht, dann werden diese Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst seit ihrer Eröffnung am 8. Juni etwa 650000 Besucher gesehen haben – 20000 mehr als 1997 bei der zehnten, damals noch klein geschriebenen „documenta“.

Jene „d X“, die von der ebenso elegant eloquenten wie zugleich spröden Französin Catherine David verantwortet wurde, war wegen ihrer Rekordresonanz schon eine Überraschung gewesen. Denn David hatte statt Kunst eher Konzepte, statt sinnlicher Anschauung oft seminaristisches Material – von Flugblättern und Architekturplänen bis zu Atelierarchiven – geboten. Allerdings mit gleichsam puritanischem Chic. An der Oberfläche war vieles auch bunt schillernd und videoflimmernd; so entfachte eine Schau, die sich als politischer Einspruch gegen jede ästhetische Kulinarik verstand, einen besonderen Sog: den des oppositionellen Supermarkts, des kritischen Mainstreams. Und manche dachten, diese Tendenz zum Surrogat und „Sekundären“ (wie der Kulturphilosoph George Steiner sagt) würde sich unter der Ägide des David-Nachfolgers Okwui Enwezor womöglich noch verstärken.

Doch dann hat der in Nigeria geborene, seit 20 Jahren in New York lebende Politologe, Philologe und Kunstkurator gleich doppelt überrascht. Denn Enwezors Documenta ist trotz riesigem Diskurs-Anspruch und zeitdiagnostischer Ummantelung, trotz allen jüngsten Kriegen, Katastrophen, Terrorattacken und zivilisatorischen, ökonomischen, ökologischen Verunsicherungen die weltläufig harmloseste, weil im Kern doch konfliktfreieste Weltkunstmesse geworden, die Kassel in den letzten 20 Jahren gesehen hat.

Das ist verblüffend. Diesem Enwezor, der jederzeit Hegel und Habermas zitiert oder Sartre und Wittgenstein, ihm ist nicht zu trauen. Er ist auch ein Zauberkünstler. Vier sogenannte „Plattformen“, Symposien mit Titeln wie „Demokratie als unvollendeter Prozess“ oder „Creolité und Kreolisierung“ hatte er zwischen Wien und Berlin, zwischen Neu-Delhi und Lagos inszeniert: als Vorspiele zur Documenta 11, die dann voll intellektueller Koketterie nur als „Plattform 5: Ausstellung“ präsentiert wurde. So steht es auch auf dem erneut zum Kultbuch gewordenen, mit 620 großformatigen Seiten wackersteinschweren Documenta-Katalog.

Bei Catherine David spielte dieser Versuch einer Bibel der neueren Ästhetik im Titel noch mit den Begriffen „Politics/Poetics“ und eröffnete mit der Atombombe und Auschwitz, mit Brecht-Notaten und Paul Celans „Schwarzer Milch der Frühe“. Schlagen wir nun die Buch-Plattform 5 auf, kommen zunächst 30 Seiten Pressefotos: eine Favela-Bewohnerin in Rio und Milosevic vor dem Haager Tribunal, ein Mann stürzt aus dem brennenden World Trade Center in den Tod, es gibt politische Graffiti, Arafat und Bin Laden, Hühner in Legebatterien, vietsische Näherinnen, Attentate, Globalisierungsproteste, Intifada-Bilder. Und Enwezors Eingangsessay spricht von den „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) und von Ground Zero als „Metapher“, „anhand derer wir benennen können, worum es in der radikalen Politik und in den experimentellen Kulturen von heute geht“. Enwezor sagt, der radikale Islam sei der letzte große Gegenentwurf zur westlichen Hegemonialkultur, und benennt zugleich die gewalttätige Enge der „Theorien des Dschihad“; aber was die angeblich vom 11. September erhellten „experimentellen Kulturen von heute“ sind, erfahren wir nicht. Das bleibt ominös, undeutlich.

Wer dann aus dem dicken Buch in die Welt der 118 Künstler im Kasseler Fridericianum, im Kulturbahnhof oder in der einstigen Binding-Brauerei, dem neuen Besuchermagneten, tritt, findet der: visuelle Auseinandersetzungen etwa mit den jüngsten Völkermorden in Afrika, mit den Balkan-Kriegen, mit dem Nahostkonflikt? Die Antwort ist: nein. So wurde zum Beispiel keiner der israelischen und palästinensischen Künstler eingeladen, die in ihren Werken die Zerrissenheit ihrer Länder und Kulturen spiegeln.

Trotzdem ist man dankbar, dass Enwezor und seine Kuratoren polit-ästhetische Versimpelungen und alle Spielarten von Agitprop und Agitpop vermieden haben. Auch der 11. September ist erfasst, ohne in die voyeuristische Falle zu tappen: Es sind die am Tag der Attacke in Manhattan gemachten Bilder des Pariser Fotografen Touhami Ennadre. Licht ist da fast nur auf den Gesichtern der Menschen, die Stadt selbst scheint wie weggesogen, black-out, und es herrscht eine empfindliche Stille – als kämen diese Überlebenszeichen aus dem schwarzen Auge des Taifuns (erstmals vorgestellt hatte Ennadre die Geschichte dieser Bilder im Tagesspiegel-Feuilleton am 11. November 2001).

Es ist also nicht alles bunt auf dieser populär gewordenen Documenta. Erstaunlich aber wirkt nach allen Intonationen manche Form von Heiterkeit. Eines der optisch attraktivsten und zur Eröffnung im Juni in allen Medien gezeigten Werke ist die Rauminstallation „Articulés/Desarticulés“ von Annette Messanger. Man glaubte, lauter blutige oder verrußte Körperteile in der Luft schweben oder am Boden gleich Leichenbergen zu sehen. Ein beunruhigendes Bild. In der Realität jedoch erkennt man im Raum der Französin, die früher männliche Geschlechtsteile bemalte, nur lauter rote und braune Stoffpuppen, hüpfende Textilskelette und Fantasy-Tiere (Spinnen und Bären): eine hübsche Kinderei, kaum mehr. Oder der „Galanterie und Ehebruch“ (auch „Criminal Conversation“) bezeichnete Raum des Anglonigerianers Yinka Shonibare: Figuren in Rokoko-Kostümen machen Sex, und das ist bei bestimmten Stellungen besonders komisch, weil die lebensgroßen Puppen alle kopflos sind – eine Variation der Botschaft aus Peter Weiss’ „Marat/Sade“-Drama: Keine Revolution ohne allgemeine Kopulation.

Immer wieder gibt es so zwischen Videos über Seehundjäger in Grönland oder Schneefluten in Teheran überraschende Spuren von Ironie. Ein monochrom schwarzes Bild heißt „Selbstportrait“ und stammt von dem Afro-New Yorker Glenn Ligon, der Libanese Walid Ra’ad mit dem Künstlernamen Atlas Group zeigt seine hinterlistigen „Dokumente“ erfundener Erfindungen, Verbrechen und Katastrophen, und die Berliner Künstlerin Maria Eichhorn wurde soeben für ihre satirische Gründung einer surreal wirklichen Aktiengesellschaft mit dem Documenta-Preis ausgezeichnet. Eichhorn erklärt die Ausstellung der notariellen Urkunden und Gesellschaftsverträge zum Kunstwerk, zeigt das Stammkapital ihrer AG, 50000 Euro, in einem Panzerglasschrein und führt damit den Kunstmarkt aufs Schönste ad absurdum. Wie auch Thomas Hirschhorn, freiwillig unfreiwillig, der eine Hommage an den französischen Poeten und Philosophen Georges Bataille mit einer Papp-Plastik und einer holzgezimmerten Bataille-Bibiothek als wunderliches Sozialprojekt in die Grünanlagen einer türkischen Arbeitersiedlung in der Kasseler Nordstadt versetzt.

Spielereien. Ganz anders Frédéric Bruly Bouabré aus Abidjan, der auf hunderten handgeschnitten Karten die Welt durch eine zeichenhafte, märchenhafte Weltsprache neu erfindet. Oder ein Raum der Teheraner Jüdin Choreh Feyzdjou: ein großer Basar mit Textilien, Tinkturen, Olivenpressen, doch fern der beliebig bunten Bastelwelten, die mit der schieren Anhäufung disparater Gegenstände bereits Weltfülle suggerieren. Feyzdjous Laden hütet die verzehrende, dauernde Zeit, ist überzogen von schwarzen und braunen Krusten, wie von Blut und Lava: ein Pompeji der Dinge.

Die Stärke dieser Documenta aber sind jene Videos, die mehr sind als prätentiöse Endlosschleifen oder zu Großinstallationen aufgeblasene Fernseh-Dokus (wie eine italienische Recherche über den totgeschwiegenen Untergang eines Flüchtlingsschiffs vor Sizilien). Herausragend Zarina Bhimjis Ruinen von Entebbe, die wortlose Suche nach ihren Wurzeln als eine von Idi Amin einst aus Uganda vertriebene Inderin. Oder Eija-Lisas Ahtilas Porträt einer psychotischen Tagträumerin, in der Sommerhausidylle an einem finnischen See. Das Unheimliche wird da poetisch begriffen, doch nicht erklärt. Wie auch im grandiosen Zwölfminuten-Film der in New York lebenden Iranerin Shirin Neshat, der auf zwei Leinwänden eine schwarze bedrohliche Schar von Dörflern irgendwo in Mexiko zu einem einsamen, ummauerten Bergfeld aufbrechen lässt. In der Mitte des Gevierts steht ein einzelner Baum, und aus dessen Höhlung schaut eine Frau. Eine Natur-Heilige, eine Ausgestoßene? Man weiß nicht, ob man da einer Wallfahrt zusieht oder einer Menschenjagd – aber als die Menschenmasse das Areal umlagert und stürmt, ist die Frau im Baum verschwunden. Das ist ein Bild, das bleibt, am Ende dieser von Hunderttausenden besuchten Documenta.

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