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Kultur: Das Schaukeln der Kamera

Vom Wasser: Die Galerie Carlier/Gebauer präsentiert den brasilianischen Videokünstler Marcellvs L.

Ein Mann durchschreitet einen Fluss, durchpflügt ihn Schritt für Schritt, bis ihm mittendrin das Wasser brusthoch steht. Und doch geht er unverdrossen weiter, bis er an der anderen Uferseite angekommen ist. Denn dieser Strom ist kein Flussverlauf wie jeder andere, sondern durch eine Überschwemmung erst gebildet, die ausgerechnet eine der wichtigsten Verbindungsstraßen der brasilianischen Stadt überflutet hat. Wer also auf dem kürzesten Wege von einem Viertel ins nächste kommen will, muss sich schon ins Wasser hineinbegeben – was Fußgänger wie Radfahrer immer wieder mit der gleichen stoischen Ruhe auf sich nehmen, mit der auch jener fremde Fluss mitten durch ihre Nachbarschaft fließt.

Nur durch Zufall war Marcellvs R. auf diese Straßensituation gestoßen, eigentlich auf der Suche nach einem anderen Drehort. Fasziniert blieb er, stellte das Stativ auf und zoomte mit einer einzigen Einstellung den Weg jenes Mannes mit, der gerade von der gegenüberliegenden Seite den Fluss durchschritt. Solche Bilder kann man nicht suchen, man muss sie finden und hält sie dann fest.

Ein zehnminütiger Film entstand, der auch das Leben des jungen Videokünstlers verändern sollte. Auf den Filmfesten seines Landes fand die kleine Beobachtung am Rand des Alltags, die doch große Geschichte erzählt und eine immense Spannung beim Betrachter aufbaut, kaum Beachtung. Bei den Internationalen Kurzfilmtagen vor zwei Jahren hingegen, wo seit langem die Kreuzungsversuche von Black Box und White Cube beobachtet werden, schlug der kleine Streifen ein. Das damals 24-jährige Überraschungstalent erhielt sogleich den Großen Preis der Stadt Oberhausen. Im vergangenen Jahr folgte die Nominierung für den Kölner Nam June Paik Award, womit die minimalistischen Filme des jungen Brasilianers weiter in den Kunstkontext gerückt waren. Dort ist er nun endgültig angekommen mit seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie Carlier/Gebauer, entdeckt zuvor von Ellen Blumenstein bei der Biennale in Sao Paulo.

„Man / Road / River“ (4500 Euro) ist nur noch eine kleine unter den insgesamt sechs präsentierten Arbeiten, von denen die synchronisierte Projektion „ebbing. flowing“ (9000 Euro) als Installation fulminant einen ganzen Ausstellungssaal bespielt. Der aus Belo Horizonte stammende Künstler mit dem logo-artigen V im Namen befindet sich hier ganz in seinem Element, dem Wasser. Auf einander gegenüberstehenden Projektionsflächen sieht der Betrachter jeweils das gleiche Fischerboot mit Palmendach an Land, nur schaukelt unablässig die Kamera auf und nieder; dazu klatschen hörbar Wellen auf den Strand. Etwas stimmt hier nicht, das spürt der Betrachter sogleich; es dauert länger, bis er versteht, was es ist. Der schwankende Kamerastandort befindet sich mitten auf dem Wasser – die eine Projektion zeigt das gelandete Boot bei Flut, die andere bei Ebbe.

Fast begreift der Betrachter den Vorgang physisch schneller, nimmt den Rhythmus der Bewegungen körperlich in sich auf. Gerade darin besteht die besondere Qualität von Marcellvs L.’s Langzeitstudien: dass er die Geduld des Betrachters bis an seine Grenzen strapaziert und ihm am Ende einen Reichtum an Einzelbeobachtungen, ja eine Reflektion seiner eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten beschert. Auch in der über Eck gestellten Doppelprojektion „Rope“, die nicht mehr als ein im Wasser auf- und abtauchendes Seil zeigt, wartet der Betrachter mit wachsender Spannung und weiß doch: nichts passiert. Schöner kann Zeit kaum verrinnen, mit der Erkenntnis „Alles fließt“.

Galerie Carlier/Gebauer, Holzmarktstraße 15-18, Bogen 51/52, bis 17. 2.; Di bis Sa 11 – 18 Uhr.

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