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Kultur: Das Schweigen am Bodden

Vorpommern von unten: Volker Altwasser erzählt von den Wendejahren

In Volker Altwassers Geschichten brauchen die Protagonisten mehrere Anläufe, bis sie auf einigermaßen sicherem Terrain landen. Die Erfahrung scheint dem 1969 in Greifswald geborenen Autor selber nicht ganz fremd zu sein: Sein Nachwenderoman „Wie ich vom Ausschneiden loskam“ ging 2003 bei Kiepenheuer & Witsch unter, sein Neuanfang 2009 bei Matthes & Seitz mit dem historischen Roman „Letzte Haut“ um einen Richter, der einen KZ-Kommandanten noch im NS-Staat zum Tode verurteilt, dabei selbst zum Mörder wird, fand bei der Kritik kein Pardon.

Nun ein neuer Versuch, mit dem Altwasser zum Thema seines Debüts zurückfindet. Letzte DDR- und erste Wendejahrzehnte nicht aus der „Turm“-Perspektive, sondern von unten, wo es an Selbstbewusstsein fehlt, sich mit eigenen Worten auszudrücken: sei es, weil die Öffentlichkeit keinen Platz dafür hergibt, sei es aus Scham, sich zu den eigenen Demütigungen zu bekennen.

Altwasser erzählt von „Volker“ (!), dem vom Alkoholiker-Vater im Stich gelassenen Sohn einer ewig depressiven Mutter, die ihn zwar mit Lockenwicklern und Strickzeug versieht, ihm dabei jedoch jede männliche Orientierungshilfe vorenthält; von „Jack“, der adoleszenten Evolutionsstufe Volkers, der in der Lederjacke aus dem Westpaket Anerkennung sucht und die Demonstranten des ostdeutschen Herbsts im Übermut agitiert, sich des Waffendepots der örtlichen „Gesellschaft für Sport und Technik“ zu bedienen. Als Jack die Lederjacke ablegt, wird aus ihm endlich der stille vernunftsuchende Robert Rösch, von dem es heißt, dass er als einziger Matrose des Hochseefischtrawlers „Saudade“ die Kunst beherrsche, die begehrte „Kurznasenseefledermaus“ zu zerlegen – und beim Zerlegen, so der Erzählrahmen, kommt die Erinnerung an frühere Stufen seiner schamgeprägten Existenz in ihm hoch. Dass dieser ehemalige Student der Sozialwissenschaften daheim nun selbst eine halbwegs intakte Familie mit Tochter und Frau hat, die das Verständnis dafür aufbringt, ihn immer wenn ihn die Schwermut übermannt, auf See ziehen zu lassen, gehört zu den weniger glaubwürdigen Fiktionen des Romans.

Stark und glaubwürdig wirkt Altwasser immer dann, wenn er alles Geflunker und Psychologisieren beiseitelässt und einfach erzählt. Da offenbart sich ein in seiner Bandbreite großartiges Talent. Wie er die von seinen falschen Ersatzvätern erniedrigte Mutter schildert und die Perspektive des Jungen darauf, etwa im Eingangskapitel über den brutalen „Heiratsschwindler“ aus finsterster DDR-Provinz. Oder wie sein Erzähler mit einer Art von Humor, der seinem Protagonisten, ohne ihn preiszugeben, schelmisch beisteht, die bizarre Atmosphäre der „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“ wiedergibt, wo ausgerechnet ein Trinkersohn zum Agitator in spe herangebildet werden soll – das gab es bisher kaum zu lesen.

Und noch etwas nimmt einen für Altwasser ein: Die literarische Provinz, aus der er (sich) heraus schreibt, ist kein ostdeutsches Irgendwo, sondern der vorpommersche Landstrich, mit dem er bestens vertraut ist – Meer, Bodden und Küste sind nur die eine Seite einer Mentalität, die sich mit dem Schweigen immer schon gut ausgekannt hat. Als Kind entzündeten sich dem Protagonisten sogar einmal die Zungenbänder, weil er tagelang geschwiegen hatte. Wenn er aber loslegt mit seiner Generalbeichte, kocht verborgenes Temperament in ihm hoch: „,Erzähl, Stiller, Hauptsache lustig’“ – die Worte des Kapitäns der „Saudade“ an seinen Matrosen kennzeichnen den Autor, der sie erfunden hat. Ernst Moritz Arndt, Wolfgang Koeppen, Volker Harry Altwasser – unterschiedlicher könnten die literarischen Söhne der Stadt Greifswald kaum sein, aber so dicht sind die Talente auch im Norden nicht gesät, als dass man einen von ihnen verschweigen sollte.

Volker Harry

Altwasser:

Letztes Schweigen.

Ein Abwrackroman. Matthes & Seitz,

Berlin 2011.

256 Seiten, 19,90 €.

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