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Kultur: Das Schweigen am See

Zsuzsa Bánks Roman-Debüt „Der Schwimmer“

Von Jörg Plath

Am Anfang eine Flucht, am Ende zwei Tote und dazwischen, eingehegt wie eine Perle, ein Sommer des Glücks – oder mehrere, die in einem zusammenschießen, wer weiß das schon, wenn sich selbst die Erzählerin nicht sicher ist. Es ist ein Sommer voller Schwerelosigkeit und Leichtigkeit, in dem alles in die Gegenwart einkehrt und die Erinnerung schweigt. Dies Schweigen ist die Bedingung des Glücks, an dem der wunderbare Erzählton in Zsuzsa Bánks Debüt „Der Schwimmer“ den Leser Teil haben lässt.

Die Erinnerung gilt der Mutter, die 1956 aus Ungarn in den Westen flieht. Einen Mann lässt sie zurück, den sie nicht mehr liebt, und ihre Kinder, die etwa dreijährige Katica und ihren kleinen Bruder Isti. Beide können nicht begreifen, warum sich ihre Mutter nicht von ihnen verabschiedet hat. Ihr Vater ist seitdem in einen Dämmerzustand versunken, er „taucht“, sagen die Geschwister.

Als sich das ganze Dorf den Mund über die Frau zerreißt, die mit einer Freundin in den Zug gestiegen ist, verkauft der Vater Haus und Hof und reist mit den Kindern durch halb Ungarn zu immer neuen Verwandten. Manchmal brechen sie schon nach einer Woche wieder auf, „weil man uns nicht mehr wollte, weil wir lästig, zu laut, zu leise, zu wenig oder zu viel waren“. Der Vater raucht, lässt sich von den Frauen bedienen, geht hin und wieder arbeiten oder einer Liebschaft nach.

In jeder Stadt suchen Katica und Isti den Bahnhof auf und lernen die Abfahrtszeiten der Züge auswendig. Der Vater ist oft abwesend, und immer fürchten die Kinder, er komme nicht wieder. Sie fühlen sich bloß geduldet, so wie der Vater alles duldet im Leben, in dem er beständig Spuren verwischt und Fäden kappt. So hatte er gelebt, bis er die Mutter seiner Kinder kennen lernte, und nun lässt er sich wieder treiben.

Katica und Isti dagegen haben Angst, etwas auch nur für Momente zu verlassen – es könnte ihnen verloren gehen. Isti beginnt ins Leere zu starren und behauptet, lautlose Vorgänge wie das Polieren eines Ringes hören zu können. Die Angst um den psychisch labilen Bruder wird für Katica zum Halt, und sie erklärt es sich so: „vielleicht weil es sonst nichts gab, das mir sicher war, nichts, von dem ich wusste, es gehört zu mir und wird bleiben.“

„Wir“ heißt das erste Kapitel des Romans über die zwei Verlassenen, und aus diesem Wir tritt nicht allzu oft das Ich der Erzählerin Katica hervor: „Wenn Tamás und Mihály Lust dazu hatten, zogen sie Isti und mich durchs Wasser, fassten uns an den Händen und liefen rückwärts durch die Wellen, so schnell sie konnten, und ich, ich habe es nicht vergessen, dieses Gleiten durchs Wasser, über uns nur der Himmel, ich weiß es heute noch.“

In solch zahlreichen, oft mündlich wirkenden Einschüben, die vor- und zurückgreifen, vergewissert sich Katica sowohl der sinnlichen Erfahrung wie ihrer selbst: sie „weiß es heute noch“, die Szene aus ihrem langen glücklichen Sommer am See. Die kurzen Satzperioden verbindet ein Rhythmus, von dem im Roman mehrere Male die Rede ist. In der vielleicht schönsten Szene ist die Erinnerung an einen in der Hitze flimmernden Tag untrennbar verwoben mit dem Geräusch des pausenlos in den See springenden Isti.

Zsuzsa Bánk, die mit einem Auszug aus dem Roman schon den Berliner Literaturwettbewerb „Open Mike 2000“ gewann, hat Katica also einen keineswegs naiven Ton verliehen. Die kindliche Perspektive bleibt jedoch gewahrt, die Händel, Liebesverwicklungen und Alltagsdramen der Erwachsenen spielen nur schemenhaft in Istis und Katicas Welt hinein. Irgendwie wissen sie, was es bedeutet, dass das Haus oberhalb des Sees, in dem sie unbeschwerte Monate verbracht haben, abgebrannt ist. Aber bis zur ohnehin unabwendbaren Abreise wollen sie es lieber nicht genauer wissen.

Voller Glück ist dieser Sommer am See, weil der Vater den Kindern das Schwimmen beigebracht hat. Er ist „Der Schwimmer“, der ganze Tage im Wasser verbringt und sich gleitend den Anforderungen des festen Landes entzieht. Besonders Isti lernt das Wasser und das zeitweilige Vergessen in ihm über alles lieben.

Dann müssen sie weiterziehen, dann folgen weitere Familienmitglieder, deren n als Kapitelüberschrift dienen, bis über dem letzten „Kata“ für Katica steht. Isti und ein weiterer Verwandter sind gestorben. Vom „Wir“ zum Ich führt der Roman: Katica findet zu sich, in dem sie ihre Kindheit erzählt. Zsuzsa Bánk, die 1965 geboren wurde und in Frankfurt am Main lebt, lässt ihr Buch 1956 in Ungarn beginnen und 1968 im Prager Frühling enden, womöglich, um der bei Debüts nahe liegenden Vermutung zu entgehen, sie schildere ihre eigene, tatsächlich teilweise ungarische Biografie. Doch die politischen Daten, zu denen auch noch der Tod Stalins 1953 und der Mauerbau 1961 gehören, wirken unnötig aufgepfropft.

„Der Schwimmer“ erzählt nämlich nicht vom Sozialismus und auch nicht vom „Ende eines Familienromans“. Im beinahe schon wieder vergessenen Buch von 1977, das diesen Titel trägt, lässt der Ungar Peter Nádas dem Kind die stalinistische Gegenwart im Vater, die Verfolgungsgeschichte der Juden im Großvater und die Erlebnisse der verzweigten Familie im Dickicht konkurrierender Versionen entgegentreten. Von alldem ist in „Der Schwimmer“ nicht die Rede. Die familiäre Überlieferung ist spätestens mit der Flucht der Mutter in den Westen abgebrochen und stumm. Isti und Katica müssen ihre Familiengeschichten selbst erfinden, Katica auch ihre Kindheit.

Die weitgehend traditionslose Geschichte einer Heranwachsenden entgeht einer gefährlichen Enge nicht durch politische Chiffren wie 1956 oder 1968, sondern durch das sie grundierende Gefühl der Heimatlosigkeit und durch die betörende Rhythmik ihrer Sätze. Dieser Ton stammt nicht unbedingt aus dem Vermächtnis des Familienromans, er ist älter: Zsuzsa Bánk erzählt von einer Odyssee in Ungarn. An ihrem Ende stellt Katica einen Ausreiseantrag. Aber ob sie noch hofft, in der Fremde anzukommen, bleibt offen.

Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer. Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2002. 286 Seiten, 18,90 €.

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