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Kultur: Das Schweigen des Franklin Delano Roosevelt

Deckname Witold: ein Bericht des polnischen Holocaust-Zeugen Jan Karski – und ein Roman über ihn

Auf dem Umschlagfoto sieht man sie deutlich, die Narben in Jan Karskis feinem Gesicht. Die SS hatte sie 1940 dem jungen polnischen Widerstandskämpfer zugefügt. Da war Jan Kozielewski, 1914 als achtes Kind eines Sattlermeisters in Lodz geboren, erst ein paar Monate im Untergrund. Unter den Decknamen Witold und Jan Karski erledigte der angehende Diplomat seine ersten waghalsigen Kurierdienste. Im Auftrag der von London aus operierenden polnischen Exilregierung, die sich als Staat im Untergrund begriff, transportierte er Botschaften und Dokumente auf Mikrofilm durch das faschistisch besetzte Europa. Doch bei einer seiner Missionen wurde er in der Slowakei von einem Bauern verraten.

Die sogenannte Sonderbehandlung, sprich Folter, durch die SS, die Jan Karski daraufhin erfuhr, stürzte ihn derart in Verzweiflung, dass er einen Selbstmordversuch unternahm. Der 26-Jährige wurde in ein Krankenhaus verlegt und konnte von dort aus flüchten. So gelang es ihm, im Oktober 1942 als Augenzeuge hinter die Mauern des Warschauer Ghettos und – als ukrainischer Wachmann getarnt – sogar in das Vernichtungslager Izbica Lubelska bei Lublin im Südosten Polens zu gelangen. Karski erinnerte sich: „Es war, als würde ich mich durch eine Masse aus schierem Tod und Verwesung kämpfen, die durch die gequälten Zuckungen noch grauenhafter wurde. Verstört und ungeschickt stieß ich immer wieder mit jemandem zusammen oder trat auf eine der Gestalten, die dann wie ein Tier reagierte, meist mit einem Stöhnen oder Aufjaulen. Jedes Mal, wenn das passierte, überkam mich ein Übelkeitsanfall, und ich musste innehalten.“

Jan Karski wurde zum Augenzeugen, der die Alliierten aufrütteln und den Holocaust stoppen wollte. Das schilderte er 1944 in seinem epochalen Buch „Mein Bericht an die Welt – Geschichte eines Staates im Untergrund“. Erst jetzt liegt es in einer hervorragenden Edition auch auf Deutsch vor. Neben Karskis ergreifendem Zeitzeugen-Bericht ermöglicht es zugleich eine Innenansicht des polnischen Widerstands. Da er seine Aufzeichnungen als anti-deutsch empfand, hatte der 2000 verstorbene Karski eine Veröffentlichung hierzulande hinausgezögert.

Ein Mann, zwei Bücher. Als im vergangenen Jahr in Frankreich Yannick Haenels Roman „Das Schweigen des Jan Karski“ erschien, entbrannte ein heftiger Streit mit Claude Lanzmann. Dieser hatte Karski einst acht Stunden lang für seinen berühmten Film „Shoah“ interviewt. Darin schilderte der Pole seinen Besuch im Weißen Haus bei US-Präsident Roosevelt am 28. Juli 1943. Karski hatte gehofft, die Amerikaner zu alarmieren, und wurde bitter enttäuscht. In seinem „Bericht an die Welt“ verliert er darüber kein Wort, auch nicht in dem 40-minütigen Interviewausschnitt, den Lanzmann für seinen Film verwendete. Diese fehlende Empörung, dieses Schweigen des Augenzeugen veranlassten Yannick Haenel zu seinem Roman „Das Schweigen des Jan Karski“. Karskis Audienz im Weißen Haus imaginiert er folgendermaßen: „Vor dem Botschafter und mir wirkte Roosevelt, in seinem Sessel zusamengesunken, genauso schläfrig wie in Jalta. Ab und zu drehte er sich zu der Frau in weißer Bluse um, er schämte sich nicht, auf ihre Beine zu starren. Ich sprach viel, ich versuchte zu beschreiben, was ich im Lager von Izbica Lubelska gesehen hatte. Die junge Frau machte sich Notizen, aber Roosevelt sagte nichts. Er hatte seine Weste aufgeknöpft und ließ sich bequem in seinen Sessel sinken. Ich glaube, er verdaute, ich sagte mir: Franklin Delano Roosevelt ist ein Mann, der verdaut – er ist schon dabei, die Vernichtung der europäischen Juden zu verdauen.“

„Präsident Roosevelt schien reichlich Zeit zu haben und keine Müdigkeit zu kennen“, schreibt Jan Karski in seinen Erinnerungen über die Begegnung. Haenel jedoch lässt seine Kunstfigur Karski im Antlitz des mächtigsten Mannes der freien Welt etwas anderes erkennen: „Je deutlicher ich die Erwartungen der Juden aus dem Warschauer Ghetto und damit aus allen Ghettos Europas, aller Juden, die vernichtet wurden, kundtat, desto öfter unterdrückte Roosevelt ein Gähnen.“

Der französische Autor glaubt an eine chassidische Weisheit, die er Elie Wiesel zuschreibt: „Man kann dem Wort durch das Wort ein neues Leben geben.“ Doch Yannick Haenel, Jahrgang 1967, tut des Guten zu viel. Im ersten Teil seines Romans fasst er das Gespräch von Claude Lanzmann und Jan Karski in „Shoah“ zusammen, Teil zwei referiert in aller Kürze Karskis „Bericht an die Welt“, wobei ihm bei der Topographie Polens einige Fehler unterlaufen. Im dritten Teil schließlich verleiht er seinem Helden nach Art des Lenor-Gewissens eine neue innere Stimme. In diesem erfundenen Monolog bricht sich nun endlich Karskis Enttäuschung, ja, seine Verbitterung über die Untätigkeit der Alliierten Bahn.

Sein Leben lang ist Jan Karski den Stimmen aus dem Warschauer Ghetto und ihrem Auftrag gefolgt. Es ging ihm um die angemessene Würdigung der Widerstandsleistung seiner überfallenen, gedemütigten Heimat. Dabei wurde aus dem glühenden polnischen Patrioten ein „jüdischer Katholik“, wie er selbst sagte. Der Professor für Politikwissenschaft an der Georgetown University in Washington erlebte die Einsamkeit des Augenzeugen als Schicksal. Das thematisiert Yannick Haenel höchst beredt, doch bleibt sein Text spekulativ. Er ist die Kür zur Pflichtlektüre von Jan Karskis Bericht.

Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. Hrsg. von Céline Gervais-Francelle, aus dem Englischen und Französischen von Franka Reinhart und Ursel Schäfer. Kunstmann, München 2011. 624 Seiten, 28 €.

Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan Karski. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Rowohlt, Reinbek 2011. 188 Seiten, 18,95 €. – Am Donnerstag, 16.Juni, 18 Uhr, findet unter dem Titel „Was wusste die Welt damals vom Holocaust im besetzten Polen?“ im Ort der Information am Berliner Holocaust-Mahnmal eine Lesung aus Karskis Bericht mit Podiumsdiskussion statt. Anmeldung unter info@stiftung-denkmal.de oder 030/2639430.

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