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Kultur: Das Spiel ist offen

Eine Entdeckung: Der Dichter Johannes Jansen folgt neuen Spuren des Bewusstseins

Von Gregor Dotzauer

Es passiert mindestens zwei Mal im Jahr. Von irgendwoher, aus Frankreich oder Amerika, kommen Gäste, die sich nach dem Zustand der deutschen Literatur erkundigen. Sie wollen nichts mehr hören von Grass und Walser. Man braucht ihnen nicht kommen mit den genauso großen Älteren, mit Jürgen Becker, Dieter Wellershoff oder Paul Nizon. Die Mittelalten wie Marcel Beyer, Durs Grünbein oder Ulrich Peltzer sind ihnen vertraut, und die Jüngeren, Christian Kracht oder Terézia Mora, haben sie zumindest registriert. So schlecht funktioniert der Literaturexport nicht, als dass sich von außen nicht ein Bild von der deutschen Literatur gewinnen ließe. Die Gäste interessieren sich auch nicht für das, was an Binnenverständigung unter Szenen und Generationen stattfindet, und von handwerklich solider Unterhaltung haben sie schon vor der eigenen Haustür genug.

Nein, wir meinen neue Namen und richtige Literatur, erklären sie dann manchmal ganz betreten, als wäre es ein Frevel, einen Anspruch zu vertreten, der einer fernen Vergangenheit anzugehören scheint: Kafka, Benn, Bernhard, Müller – etwas in dieser Art. Eine Literatur, die Kopf und Kragen riskiert. Eine, die klug genug ist, das Vorhandene in sich aufzunehmen, und naiv genug, um es weiterzuschreiben, wie auch sie selbst weitergeschrieben werden wird. Dann kommt die Zeit, ihnen einen Schriftsteller, nein, einen Dichter ans Herz zu legen, der nicht einmal in seinem eigenen Land den Stand hat, der ihm gebührt.

Johannes Jansen, 1966 in Ost-Berlin geboren, ist nicht wirklich übersehen worden, aber der öffentliche Blick hat sich von ihm längst wieder abgewendet. Dafür gibt es Gründe – doch keine Entschuldigung. Von den beiden Büchern, die in diesem Sommer erschienen sind, den Prosaskizzen „Halbschlaf“ und „Liebling, mach Lack – Die Aufzeichnungen des Soldaten Jot Jot“, den faksimilierten Tagebüchern aus seiner NVA-Zeit, hat bisher keine große Zeitung Notiz genommen. Eine Erklärung liegt in der Publikationsgeschichte seiner Bücher, in der Kontinuität und Diskontinuität hart miteinander ringen. Jansens Werk ist verstreut über acht Verlage – wobei die knapp zwanzig, in Kleinstauflagen verlegten Künstlerbücher, die der gelernte Graveur und Gebrauchsgrafiker seit 1987 veröffentlicht hat, noch nicht eingerechnet sind. Auch die beiden jüngsten Titel kommen aus verschiedenen Verlagen: die NVA-Zeichnungen und Notizen von kookbooks, jenem 2003 von Daniela Seel im Umkreis der jüngsten Berliner Lyrikszene gegründeten Verlag, und die „Tag Nacht Gedanken“ von Suhrkamp, wo in der „edition“ seit 1992 fünf Bücher erschienen sind: Die Weihen des gebundenen Buches hat er nie erhalten.

Dazu kommt, dass Jansens Texte einen Verdichtungsgrad haben, der sich gegen schnelle Lektüre sperrt. Mehr und mehr bewegen sie sich auf Denkbilder zu, zwischen Philosophie und Literatur changierende Prosasplitter, die ein Denken ohne feste Begriffe erproben – ein in der zeitgenössischen deutschen Literatur seltenes Genre, das Walter Benjamin und Siegfried Kracauer beerbt, ohne sich auf sie zu beziehen. Und: Das autobiografische Material, das Jansens Prosa früher in sich hineinstrudelte, löst sich auf. Er ist unterwegs zu immer stoffloseren Texten, die das sich ständig selbst umwälzende Bewusstsein ergreifen wollen.

Es hilft nichts: Johannes Jansen ist ein schwieriger Autor – und das in jeder Hinsicht. So beredt er über seine Arbeit Auskunft geben kann, er taugt weder für strahlende Podiumsauftritte noch für publikumsfreundlichere Textsorten. Seelisch nicht ungefährdet, in dieser Gefährdung aber stets reflektierter Beobachter des Davontreibens in ungeschützte Bewusstseinsräume, wehren sich seine Texte gegen jede Leichtigkeit. Sie leben von der äußersten Gespanntheit und dem äußersten Ernst. „Wenn dich der Wahn in ein System treibt, gehst du kaputt, weil nie passt, was du siehst und nie ist, was du denkst“, notiert er in „Halbschlaf“ einmal. „Das Spiel ist eben offen, und Gott hat Wunder verboten.“

Seine erfolgreichste Zeit hatte er in den unmittelbaren Nachwendejahren. Jansen, Sohn einer Germanistin und eines Kunsthistorikers und Barlach-Experten, entstammte der Prenzlauer-BergSzene. In seinen frühen Text-Bild-Arbeiten spiegelt sich ein Lebenstrotz gegen das absterbende Land, wie ihn niemand aus seiner Generation intensiver beschworen hat. Mächtige Endmoränen der DDR-Eiszeit hat Jansen aufs Papier gewuchtet, in Kleinbuchstaben über die Blätter und Seiten fließenden Materialschlacken ohne Punkt und Komma.

Die in den „Aufzeichnungen des Soldaten Jot Jot“ festgehaltenen Erfahrungen aus den Jahren 1985 bis 1987 führen in die Phase, die den Blick auf sein Land bestimmt hat. Es ist die Geschichte einer Verstörung. So nachtschwarz, wie einem hier aus Jansens (mit Transparentpapieren aufwändig reproduzierten) Skizzenblöcken Kriegsfratzen entgegenstarren, meint man, er wäre gerade den Schützengräben des Ersten Weltkriegs entstiegen. „Die Situation eines Mannes im Käfig, eine Momentaufnahme über Jahre“, steht in Versalien unter einer mit Passfotos des Soldaten versehenen Collage. „Urwälder in den Urwäldern. Strenge dichtere Dschungel inmitten von Wildnis, klar abgegrenzt vom Üblichen. Rechteckige Labyrinthe. Etwas zum Festhalten. Etwas um abzustürzen.“

Jansen arbeitete als Altenpfleger, er ließ sich zum anthroposophischen Pfleger ausbilden, betreute Problemjugendliche – Erfahrungen, die Spuren in seinem Werk hinterlassen haben – und gewann 1996 beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb für seinen Text „Dickicht Anpassung“ (im gleichnamigen Band des österreichischen Ritter Verlags) noch einmal einen Preis. Seitdem ist es still geworden um ihn, der mit seinen 38 Jahren mitten im Leben verloren scheint: ein vereinzelter Punkt in der Unendlichkeit, als der er sich auch in „Halbschlaf“ wieder beschreibt: „Gigantische Zusammenhänge, von korrumpierenden Einzelheiten verstellt.“ Und weiter: „Jeden Tag eine andere Perspektive. Jeden Tag Orientierung wieder von vorn. Standpunkte gibt es nicht, nur ein paar leer stehende Nester, die die Natur übrig gelassen hat und in denen man versuchen kann, sich zu verbarrikadieren.“

Die größte Aufmerksamkeit hat Johannes Jansen in den letzten Jahren die gut und gerne zehn Jahre jüngere Berliner Dichtergeneration geschenkt, die ihn geradezu als Vaterfigur verehrt. Einer ihrer Protagonisten, Jan Böttcher, hat Jansen auch eine gründliche literaturwissenschaftliche Untersuchung gewidmet (in: „Autobiografisches Schreiben nach 1989“, Verlag Janos Stekovics, Dössel 2003). Aber was nützt es, ein writer’s writer zu bleiben? Das Paradoxe ist, dass Jansen offenbar nicht einmal mehr das sein will. Schreibend scheint er sich aus dem Schreiben herausbewegen zu wollen. „Einfach nur da sein und meinen Hirnströmen folgen“, steht in „Halbschlaf“. Er scheut die „Ödnis der benannten Welt“: „Gott hat den Dingen keinen Namen gegeben, und ich bestehe darauf, unbenannt durch unbenanntes Gelände zu laufen.“

Noch etwas hat sich verändert. Statt der gewohnten Liste mit „Zitatresten und Berührungen“, die jedes Buch beschließt (eben Kafka, eben Benn, eben Bernhard, eben Müller – aber auch Flanzendörfer. Patti Smith oder Ulrike Meinhof) steht am Ende zum ersten Mal der Hinweis : „Ein immerwährendes Aufatmen, so zwischen Stolz und Entgleisung. Da das Verständnis langsam fruchtet, schweigen wir diesmal über die Bezüge.“ Es ist noch nicht klar, welche Art von Hoffnung sich damit verbindet.

Dieses Buch bestellen Johannes Jansen: Liebling, mach Lack! Nachwort von Roland Berbig. kookbooks, Idstein 2004. 220 Seiten, 44 €. – Halbschlaf. Tag Nacht Gedanken. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 85 S., 7 €.

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