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Kultur: Das Spiel von Himmel und Hölle

Tim Parks stellt heute im Berliner WM-Globus „Eine Saison mit Verona“ vor: Fußball und Italien wie nie zuvor

Ein Buch über Fußball und Italien, das klingt im ersten Moment etwa so überraschend wie die Kombination von Italien und Pasta, Mafia, Latin Lover oder Espresso. Doch hier ist fast alles anders: Tim Parks jetzt auf Deutsch erschienenes Opus „Eine Saison mit Verona“ (Goldmann Verlag, 638 Seiten, 9,90 Euro) erzählt nicht nur eine ungewöhnliche Fußball-Geschichte. Der britische Schriftsteller nimmt uns vielmehr mit auf eine Italienische Reise, wie es in der weltweiten Italien-Literatur wohl noch keine gab. Heute Abend stellt Parks seine „Season with Verona“ im Rahmen der Kulturwerbung für die WM 2006 in Berlin vor: im Fußball-Globus am Brandenburger Tor.

Ein besonderer Fall. Ein Buch über eine Reise gleichsam mit und durch den ganzen italienischen Fußball-Stiefel, vom Schaft bis zur Spitze, von Turin bis nach Kalabrien und Sizilien, dorthin und hindurch, wo er tritt, zwickt, stinkt – und dann wieder glänzt. Eine Geschichte von innen. Und von unten. Auch über wirklichen und eingebildeten Fremdenhass, über verbale Gewalt und reale Leidenschaft, über Sport, Politik und Poesie. Hellsichtig, wo andere nur schwarz sehen (oder weiß), und politisch ziemlich unkorrekt.

Denn der Autor, den man spätestens seit den Romanen „Destiny“ (2001, deutsch „Schicksal“) und in diesem Jahr „Judge Savage“ („Doppelleben“, beide im Verlag Antje Kunstmann) zu den großen Erzählern der internationalen Literaturszene zählen muss, dieser Tim Parks hat in der Saison 2000/2001 die verrufensten, verrücktesten, angeblich auch pöpelhaftesten Fans der italienischen Seria A, der Ersten Fußballiga, zu allen Heim- und Auswärtsspielen haut- und herznah begleitet. Zu allen Matches ihres Clubs Hellas Verona.

Verona? Da denkt man an eine der schönsten Städte Italiens (und damit der Welt), an die Festspiele in der Arena, an Dante und Shakespeare und unlängst sogar den Kanzler. Hier aber wird ein Stück Himmel erst mal zur Vorhölle. Von Parks lernen wir, dass die für Reisende so heiter weltoffene Stadt in Italien als enges, pfeffersäckisches, dumpfköpfiges Rassistennest gilt. Urteile, Vorurteile, die auch Hellas Verona, das in seiner jetzt hundertjährigen Geschichte nur ein Mal, im legendären Jahr 1985 (damals mit dem Kaiserslauterer Briegel als Eisenfuß in der Verteidigung), Meister wurde, bei Schiedsrichtern, Zuschauern und in den Medien jederzeit zu spüren kriegt. So Tim Parks, der seit 23 Jahren in und bei Verona lebt und seit 1997 eine Jahreskarte für die Heimspiele von Hellas besitzt.

Also ein Fachmann. Und als Fan auch befangen. Aber wie sollte ein Schriftsteller ein Buch schreiben, wenn nicht gefangen von seinem Gegenstand? In seinen Romanen geht es meist um den gefährlichen Grat von Liebe und Verführung, Sex und Verrat, Treue und Untreue – und diese Urregungen sind mit psychologischer Schärfe, mit empfindlicher Härte oder sarkastischem Humor beobachtet: als Träume und Taten nicht nur unter zweien und dreien, vielmehr im zeitgenössisch dichten Raum, im Beruf, in Familien, in den Gesellschaften Englands oder Italiens. Da gibt es naturgemäß immer wieder fiktionale Abbilder auch aus Parks’ eigenem Leben. „Schicksal“ zum Beispiel erzählt von einem englischen Journalisten in Italien, der mit einer Italienerin verheiratet ist. Der gemeinsame Sohn hat gerade Selbstmord begangen, der Journalist hat eine komplizierte Liebschaft – und einen Interviewtermin mit dem berühmt berüchtigten Ex-Ministerpräsidenten Andreotti.

Mit Andreotti hat Tim Parks tatsächlich gesprochen, er ist mit einer sechs Sprachen sprechenden Italienerin verheiratet und hat drei Kinder. Das älteste, der 18-jährige Sohn Michele, begleitet den Vater als Hellas-Fan noch immer zu den Heimspielen ins veronesische Bentegodi-Stadion, mit Schals und Mützen in den gelb-blauen Farben des Vereins. „Obwohl wir 2002 in die Seria B abgestiegen sind“, wie Parks mit einem traurigen Lächeln sagt. Er hat inzwischen ein Dutzend Romane publiziert, hat Alberto Moravia, Italo Calvino, Antonio Tabucchi und den Kulturhistoriker Roberto Calasso ins Englische übersetzt; er hat in dem noch nicht auf Deutsch erschienenen Essay-Band „Hell and back“ (Hölle und zurück) über Dante, Leopardi, Borges, Salman Rushdie und den in England tödlich verunglückten deutschen Kollegen G. W. Sebald geschrieben und einen zweiten, wiederum bei Antje Kunstmann erschienenen Prosa-Band „Ehebruch und andere Zerstreuungen“ veröffentlicht.

Tim Parks’ eigene, leidenschaftlichste und für ihn nur mit Sex und Schreiben vergleichbare Zerstreuung ist der Fußball. Er stammt aus Manchester, aus einem Pfarrerhaushalt, galt in seiner Schülermannschaft als knüppelhart und jähzornig und war nicht talentiert genug für Manchester United.

Heute interessiert ihn „ManU“ eigentlich nur noch im „Europapokal“ (er ist kein übertriebener Europa-Freund, aber das medienindustrielle Wort „Champions League“ hasst er). Bei Länderspielen ist seine Heimmannschaft immer noch England und nicht Italien. Überhaupt hat er, der jetzt zur „eigenen Überraschung“ als Professor für Linguistik und literarische Übersetzungen in Mailand lehrt und mit der Familie in einem modernen Reihenhaus am Hügelrand von Verona lebt, sich bis heute den doppelten Blick auf Italien bewahrt. Gleichsam fremd vertraut, oder mit Handke gesagt: in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Diese im Zweifelsfall erkenntnishellere Doppelbelichtung gilt gerade für sein wunderliches Fußballbuch.

„Eine Saison mit Verona“ verbindet ähnlich wie die Texte in „Ehebruch und andere Zerstreuungen“ das Imaginative mit dem Investigativen, den Essay mit der Erzählung. Schon auf die Frage, ob das langjährige Leben in Italien das Dickicht der politischen und gesellschaftlichen Realität des Landes eher gelichtet oder weiter verdichtet habe, antwortet der schlanke Endvierziger mit dem wohl neuerdings kurz rasierten, ergrauten Kopf: „Dieses Land produziert ständig eine Sintflut von Klischees. Was die internationalen Medien über Italien, über Berlusconi, die Korruption oder die Mafia berichten, ist für mich oft abenteuerlich. Auch in den italienischen Medien, auch in den zwei, drei großen, im Ausland gerne zitierten Zeitungen dominieren Meinungen, Behauptungen, Spekulationen statt grundlegende Recherche. Natürlich gibt es das alles: Korruption und Mafia und Berlusconis Probleme“ – wobei Tim Parks die ironische Zwischenfrage stellt, was wohl herauskäme, wenn Finanzbehörden und Staatsanwälte jemals den Versuch unternommen hätten, Agnellis Fiat-Imperium ähnlich neugierig heimzusuchen wie Berlusconis Unternehmungen.

„Ich habe über Berlusconi nur ein Mal nach der letzten Wahl in der ,New York Times’ geschrieben.“ Parks schüttelt wie selbstverwundert den Kopf. „Inzwischen weiß ich, dass etwas wirklich Durchdringendes über die komplizieren Codes und Konventionen in Italien nicht in allgemeinen Erörterungen zustande kommt. Etwas begreifen kann ich nur in der Beschreibung konkreter Details und mit dem längeren Atem des Erzählers.“

Das neue Buch ist dafür die Nagelprobe. Zunächst als englischer Spinner beargwöhnt und bald als aufmerksamer Begleiter akzeptiert, gewinnt der grauköpfige Autor das Vertrauen der härtesten Hellas-Fans, der brigate gialloblù, der gelbblauen Brigade, deren Schlachtgesänge unter dem Motto „soli contro tutti“ stehen, allein gegen alle. Im obszönen, derbbunten Veroneser Volksdialekt verhöhnen sie ihre Gegner verhöhnen und verklären zugleich ihre eigene, von Provinzialität, Suff, Drogen und starrsinniger Leidenschaft gezeichnete Wirklichkeit. Das heißt, sie wollen verklären: „Facci sognare“ rufen sie auf ihrem Spruchband in der curva sud des Bentegodi-Stadions dem Club und seinen Spielern zu, macht uns träumen, bitte!

Diese Träume, die im Spiel, die vor und hinter den Kulissen des Spektakels oft genug Albträume werden, nimmt Parks zu seiner eigenen Verblüffung immer ernster. Und er entdeckt in den Hohn- und Spottgesängen der Gelbblauen, in ihren gegenüber Farbigen, Frauen, Nutten, Politikern, Polizisten oder den Hellas-Oberen in immer neuen Improvisationen und dabei mit schier unerschöpflicher Stegreif-Fantasie im Stadion, bei Busfahrten oder im Internet ausgestoßenen Verwünschungen: auch die Wünsche. Die Sehnsuch nach dem Glück im Spiel – und zugleich im Leben.

Politisch also völlig unkorrekt, doch mit Sinn für die gewaltsame, gewaltige Zärtlichkeit und vitale Spachlust des Volksmunds, der Parks an die Passionen der künstlerischen Außenseiter, der poètes maudits (wie den Franzosen Lautréamont), erinnert, nimmt er freilich nicht nur Partei. Er weist anhand zahlreicher politischer Affären und Kriminalfälle im Zeitraum jener „Saison“ akribisch nach, wo es reale Gewalt gegenüber Minderheiten in Italien gab und gibt, wie unterschiedlich hierauf die öffentliche Meinung reagierte – und wie friedfertig seine gelbblauen Freunde in Wirklichkeit seien. Den Worten folgten hier keine hooliganistischen Taten. Mord und Totschlag lauerten eher im Verborgenen, in der bürgerlichen Normalität. Nicht aber in der sublimierenden Ironie, nicht im kathartischen Karneval der Fankulturen. Verona ist überall. Und der Rest ist das Leben. Ein Fußballtraum.

Tim Parks liest aus „Eine Saison mit Verona“ heute Abend um 20 Uhr im Fußball Globus vorm Brandenburger Tor, Eintritt 6 €.

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