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Kultur: Das Spiel von Liebe und Krieg

Im Kino: „L’esquive“ von Abdellatif Kechiche inszeniert die Leidenschaft der französischen Vorstadtkids

Wortwechsel können ganz schön enervierend sein. Frage, Rückfrage, der Ton wird schärfer, die Erregung steigt, ein Wutanfall, Crescendo, Fortissimo. Es folgen Kaskaden von Schimpfwörtern, Salven von Drohungen, Vorwürfen, Flüchen. Krimo, Lydia, Frida, Nanou und Fathi – die Jungs und Mädchen aus der Pariser Vorstadt reden schnell, aggressiv und immer gleichzeitig. Ein polyphoner, dissonanter, französischer Rap (dem die Untertitel kaum zu folgen vermögen). Die Kamera heftet sich an die jugendlichen Gesichter, die Münder, die Lippen. Distanz wäre hier unangemessen.

Das französische Kino hat es schon immer verstanden, die Sprache obsessiv ins Bild zu setzen. Die Sprache des Flirts und der Liebe, die Diktion von Paris, den Slang der Banlieues, der Einwandererviertel. Neu an „L’esquive“, dem zweiten Spielfilm des 44-jährigen algerischen Migrantensohns und Schauspielers Abdellatif Kechiche, ist allerdings, dass die verbalen Kraftakte diesmal kein Vorspiel, kein Vehikel für körperliche Gewalt sind. Hier wird kein Revierstreit zwischen Straßengangs ausgetragen, hier geht es einmal nicht um Drogen, Totschlag oder den Clash der Kulturen. Die dritte Einwanderergeneration ist nicht mehr in erster Linie mit Identitätsfragen und sozialer (Des-)integration beschäftigt, sondern mit dem, was Jugendliche überall auf der Welt umtreibt: mit dem „Spiel von Liebe und Zufall“ – so der Titel von Marivaux’ bekanntester Heiratskomödie.

Marivaux in der Vorstadt? „L’esquive“ bedeutet so viel wie „kneifen, sich drücken“. Krimo (Osman Elkharraz) ist der Stillste unter den Jungs. Hängt mit den Kumpels ab, kriegt kaum den Mund auf, senkt den Blick, zieht die Schultern ein. Dieser verdruckste Typ verliebt sich, ausgerechnet, in Lydia (Sara Forestier), das schmächtige Turbo-Girlie mit strähnigem Blondhaar, die Diva aus der Klasse, die sich beim asiatischen Schneider für ihr letztes Geld ein Rüschenkleid anfertigen lässt. Sie spielt die Hauptrolle im Marivaux-Stück, das die Lehrerin mit ihnen einübt. Und Krimo erschleicht sich die Rolle des Arlequin, damit er sich Lydia wenigstens bei den Proben nähern kann.

Aber Krimo ist ein miserabler Schauspieler, murmelt seinen Text – und verlässt den Klassenraum. Irgendwann traut er sich doch, mit dem Ungeschick eines Halbwüchsigen: „Willst du mit mir zusammen sein, ja oder nein?“ Nun ist es die wortgewaltige Lydia, die ausweicht, sich drückt. Und wieder ist die Kamera ganz nah dran. Dabei ernüchtert die dokumentarische Direktheit der zwischen schäbigen Betonburgen angesiedelten Bilder nicht, im Gegenteil: Die riskierte Intimität hat etwas krude Zärtliches.

Marivaux’ Liebeskrieg macht sich im Gewand der Verwechslungs- und Verkleidungskomödie einen bösen Spaß aus der Unmöglichkeit, die Klassenschranken zu überwinden. Der Liebeskrieg von Krimo und Lydia wird dagegen innerhalb einer sozialen Schicht ausgetragen. Aber Kechiches Film spürt feinsinnig auch deren Codes auf, die Regeln von Freundschaft, Solidarität und Verrat. Die Mädchen-Clique, die Kumpels von Krimo, sie kennen einander ein Leben lang, ringen um Fairness und lassen nicht zu, dass Krimo seine Ex-Freundin ignoriert und dass Lydia mit dessen Gefühlen einfach nur spielt. Das Spiel von Liebe und Zufall – ein Exempel auf den Ernst eines halbwegs gerechten Lebens.

„L’esquive“ wurde Ende Februar in Frankreich mit den vier wichtigsten Césars ausgezeichnet: vier große Preise für einen kleinen Film, der von der schier unglaublichen Energie seiner Laien-Darsteller lebt. Und dem Wissen, dass die nonverbale Gewalt sehr wohl existiert. Als Lydia und Krimo sich auf Druck der Freunde aussprechen sollen, mischt die Polizei die Jugendlichen auf: ein kurzer, rüder Einbruch der Wirklichkeit.

Bei der Aufführung des Theaterstücks spielt Krimo schließlich doch nicht mit, seinen Einsatz hat er verpatzt. Kein Happy-End? Oder eines, das erst nach dem Abspann stattfinden wird? Echte Liebeskriegsspiele dauern länger als ein Kinoabend.

In Berlin in den Kinos fsk und Hackesche Höfe (jeweils OmU).

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