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Kultur: Das Theater der Baukunst

Längst ist die Architektur global geworden. Jetzt gibt es einen vorzüglichen Überblick über die „Weltarchitektur heute“ – und eine Geschichte der Moderne im 20. Jahrhundert. Zwei fulminante Neuerscheinungen

Wohl nie zuvor wurde so viel gebaut wie heute. Und nie zuvor war das Bauen so unüberschaubar. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine wahrhaft transkontinentale Architektur, gibt es Baumeister, die an allen Ecken des Globus tätig sind. An die Stelle einer regionalen und ortsspezifischen Baukunst sind die Markenprodukte der Weltstars getreten.

In einer derart globalisierten Architektur den Überblick zu behalten, ist kaum noch möglich – ungeachtet der zahllosen Fachblätter, die jeden namhaften Neubau sofort publizieren. Für ein abgewogenes Urteil, das originäre Schöpfungen von epigonalen Nachahmungen zu trennen vermag, ist es aus der kurzen Distanz ohnehin zu früh. Jeder Überblick kann nur eine Momentaufnahme sein.

Der renommierte britische Architekturkritiker Hugh Pearman ist dieses Risiko eingegangen und hat eine materialreiche Übersicht unter dem ebenso einfachen wie anspruchsvollen Titel „Weltarchitektur heute“ vorgelegt, die unlängst in deutscher Übersetzung erschien. Souverän verzichtet er auf eine geografische Aufbereitung des ungeheuren Stoffes und hält sich stattdessen an das Gliederungsprinzip, unter dem sein (naturalisierter) Landsmann Nikolaus Pevsner eines der anregendsten Bücher zur Archikturgeschichte verfasst hat, die berühmte „History of Building Types“. Ebenso sucht Pearman das heutige Baugeschehen nach Bauaufgaben zu ordnen. Der Leser wird ihm nachsehen, dass auf diese Weise angelsächsische Bauten ein spürbares Übergewicht beanspruchen – niemand ist, bei aller Mobilität, in allen Ländern gleichermaßen zu Hause.

Macht nichts – denn in seinen 13 Kapiteln breitet der Autor über 500 Seiten hinweg ein Panorama der Weltarchitektur aus, das Seite für Seite mit einer ebenso überraschenden wie durchdachten Auswahl – durchgehend farbig illustrierter – Bauten begeistert. Das Buch ist eine Fundgrube für Gebäude, die man nie gesehen hat und in vielen Fällen wohl auch nie zu sehen bekommt.

Wer vermöchte sich schon im Straßengewirr japanischer Städte zurechtfinden, um die Meisterwerke eines Tadao Ando oder Shin Takematsu inmitten ihrer meist kakophonischen Nachbarschaften auszumachen (Kapitel „Arbeiten“)! Wer weiß schon, dass das Potemkinsche Dorf namens Las Vegas mit öffentlichen Kulturbauten bemerkenswerter Qualität aufwarten kann – freilich fernab vom Strip (zu finden korrekterweise unter „Bildung“)? Mit dem Kapitel „Freizeit“ erweist sich der Autor als Anhänger der Architekturtheoretiker Venturi und Braun, die mit ihrem Buch „Learning from Las Vegas“ 1972 die Augen für die Un-Architektur des „dekorierten Schuppens“ öffneten – und so darf das Touristen-Paradies denn auch den größeren Teil dieses Kapitels einnehmen.

Las Vegas ist der Prototyp der synthetischen Stadt. Darin berührt sie sich mit den Verkehrsbauten, die rund um den Globus die wohl höchsten Bekanntheitsgrade erreichen. Renzo Pianos japanischer Flughafen Kansai auf künstlicher Insel im Meer, Paul Andreus immer weiter wuchernder „Terminal 2“ in Paris-Roissy, Nicholas Grimshaws „Eurostar“-Annex am Londoner Waterloo-Bahnhof – das sind optische Erkennungsmerkmale von globaler Signalwirkung.

Gerade in diesem, einer vergleichsweise immer noch jungen Gattung gewidmeten Kapitel erlaubt sich der Autor einen historischen Rückblick, der unter anderem mit zwei herben Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Berliner Flughafen Tegel (von den damals frisch diplomierten von Gerkan und Marg) begleitet wird – und so eine Wertschätzung zeigt, die in Berlin selbst leider nicht geteilt wird. Apropos: Berlin kommt dann vor, wenn es Bauten britischer Provenienz zu würdigen gilt: Fosters Reichstags-Umbau, James Stirlings Wissenschaftszentrum, Richard Rogers’ Hi-tech-Bauten für Debis. Klitzeklein am Rande: Schultes’ Kanzleramt. Nun ja.

Es ist bezeichnend, dass das Buch mit den Kapiteln „Kunst: Museen und Kunstgalerien“, „Kultur: Opernhäuser, Theater und Konzerthallen“ sowie „Bildung: Schulen, Universitäten und Bibliotheken“ einsetzt. Das sind öffentliche Bauaufgaben, auch wenn sie in vielen Ländern privat finanziert und betrieben werden. Gerade in ihren architektonischen Zeugnissen wird sichtbar, wie nachdrücklich Kunst und Kultur die Identität einer Gesellschaft prägen. An der Architektur wird deutlich, dass über die konkrete Nutzung eines solchen Bauwerks hinaus es seine Form ist, in der sich das Selbstbild einer Kommune spiegelt.

Gehry und Pei, Richard Meier und Tadao Ando: auf dieses plakative Quartett verengt sich die Sicht bei den Museen, während bei den anderen Kulturbauten Entdeckungen zu machen sind. Wer kennt hierzulande das amerikanische Büro Hardy Holzman Pfeiffer und dessen zurückhaltenden Umbau der Musikakademie von Brooklyn? Dass die USA mit ihrer vorzüglichen Campus Architecture allenfalls in den französischen Bildungsbauten gleichrangige Konkurrenz finden, wird durch Ausnahmen wie Günter Behnischs Schulbauten nur unterstrichen. Zumindest Thomas van den Valentyns Weimarer Musikgymnasium hätte Berücksichtigung verdient gehabt.

Jedoch – mit übersehenen Bauten kann man der Fleißarbeit von Hugh Pearman nicht kommen. Natürlich fehlen wichtige Bauten, selbstverständlich gibt es Wertungen einzelner Architekten – allein in der Häufung von Nennungen –, die man nicht teilen mag noch muss. Wie soll es anders sein, bei einer Auswahl aus dem Baugeschehen der gesamten Welt! Die ausführlichen und überaus hilfreichen Register geben keinerlei Hinweis auf gravierende Fehlstellen. Allenfalls die Vorliebe des Autors für Japan ist auffällig, aber aller Ehren wert. Schwerer wiegt, dass Unspektakuläres fernab der postindustriellen Wohlstandszonen fehlt.

Political correctness stand indessen zum Glück nicht auf dem Programm des Autors. Er hat eine Leistungsschau zwischen die Deckel seines monumentalen Buches gezwängt, die schiere Augenlust vermittelt: Lust, diese Bauten zu sehen und zu erleben und durchaus die Begeisterung des Autors zu teilen, wie er sie angesichts etwa des in jeder Hinsicht grandiosen Gebäudekomplexes des „Internationalen Forums“ empfindet, das der Uruguayer Rafael Viñoly mitten in Tokio errichten konnte.

Für die Architekturgeschichte bleibt neben dem optischen Feuerwerk kaum Platz. Dafür gibt es, im gleichen Verlag endlich ins Deutsche übersetzt, das seit seiner englischen Erstveröffentlichung 1982 zum Klassiker avancierte Buch „Moderne Architektur seit 1900“ von William J.R. Curtis. Es bietet, was Pearmans Buch entbehrt: die Chronologie (der Moderne) und die Geografie (ihrer Verbreitung und Gegentendenzen).

Nicht zuletzt dies hebt das nach Überarbeitung um sieben Kapitel erweiterte und auf 735 Druckseiten angewachsene Buch von zahllosen Konkurrenten ab: der unverstellte Blick aufdie regionalen, durchaus auch epigonalen Baustiledernicht-westlichen Welt. Das Kapitel „Universal und lokal: Landschaft, Klima und Kultur“ eröffnet einen faszinierenden Blick auf die Leistungen beispielsweise des indischen Subkontinents. In Jahrhundertfiguren wie Le Corbusier oder Louis Kahn wird darüber hinaus sichtbar, wie viel die Moderne jenen Traditionen verdankt, die sie sodann im Namen des universellen Fortschritts beiseite gedrängt hat.

Das zu sehen und präzise zu beschreiben, gebietet das wissenschaftliche Ethos. Wie wohl in keiner Darstellung der Architekturgeschichte gelingt es Curtis, die klassische Moderne des 20. Jahrhunderts, jenen vermeintlichen style to end all styles, fernab aller Ideologie in ihre historische Begründung und schließlich auch Begrenzung zu stellen. Sein Buch ist nichts weniger als ein Meisterwerk.

Hugh Pearman: Weltarchitektur heute. 512 S.m.1001Farbabb.,geb.95€.– WilliamJ.R. Curtis: Moderne Architektur seit 1900. 3., erw. Aufl., 736 S. m. 862 Abb., geb. 49,95 €. –

Beide Bücher im Phaidon Verlag,Berlin 2002.

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