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Kultur: Das Ungetüm mit den neun Köpfen Mahlers Zehnte mit dem RSB und Vasily Petrenko

Dieser Schrei, mittendrin. Ein Ungetüm, das die Welt in den Abgrund reißt.

Dieser Schrei, mittendrin. Ein Ungetüm, das die Welt in den Abgrund reißt. Unerbittlich windet es sich in die Höhe, verdichtet sich zur himmelschreienden Dissonanz, die sich ins Gemüt fräst: Gustav Mahler hat kaum etwas Unerhörteres komponiert als den Neuntonakkord im Adagio, dem Kopfsatz seiner unvollendeten Zehnten. Ein Fanal, Jahrgang 1910: Den Vorschein der Weltkriege hat man darin vernommen, es mit Munchs „Schrei“ verglichen. Wenn Bernstein von einem „Flirt mit der Atonalität“ spricht, wenn zur Erläuterung der schwankenden Harmonik und der morbiden Endzeitstimmung des Werks die Ehekrise mit Alma angeführt wird, greift das zu kurz: Der Akkord ist der letzte Todesstoß der Spätromantik, mit ihm wird die Tonalität an sich irre.

Vasily Petrenko lässt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Konzerthaus sein Äußerstes geben, nachdem er schon das Bratschen-Thema zu Beginn keineswegs pianissimo anstimmen ließ, sondern mit breitem, kräftigem Strich. Mahlers Weltverlorenheiten, seine Reminiszenzen an Walzerklang und Ländlergaudi bettet er in eine buttrige Süße, die um ihre eigene Vergeblichkeit weiß. Kein schlechter Start für die Marathon-Sinfonie, auch wenn das Blech und die Holzbläser mit der Intonation zu kämpfen haben.

Es ist ja nicht einfach mit der Zehnten, die allein technisch eine gewaltige Herausforderung darstellt. Halbwegs fertig wurde nur der erste Satz, bei den Skizzen der beiden Scherzi vor und nach dem kurzen Purgatorio sowie dem wuchtigen Finale, in dem das neunköpfige Ungetüm nochmals sein Haupt erhebt, hat sich die Konzertfassung von Deryck Cooke und Berthold Goldschmidt durchgesetzt. Es ist nicht einfach, denn Cooke und Co. haben nichts „vollendet“, sondern machen ein Provisorium hörbar. Der agile, so hochsensibel wie ungestüm vorpreschende 36jährige Petersburger Maestro und das RSB zwingen das Disparate allerdings eher zusammen. Nichts Fragmentarisches, Fragendes haftet ihrem Spiel an. Das erste Scherzo mit seinen rhythmischen Keckheiten, die kreiselnden Leerläufe, das klagende Alma-Motiv, die pathetische, von trockenen Trommelschlägen unterbrochene Trostmusik des Finales, man mag sie nicht mehr glauben nach dem Neuntonakkord. Ob Mahler die Zehnte als Bekenntnis anlegen wollte: Ich weiß nicht mehr weiter? Als tönerne Lüge? Ob er nach dem Akkord alles verworfen hätte? Jubel im Saal. Christiane Peitz

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