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Kultur: Das unglaubliche Spielzeug

Für Helmut Newton waren Polaroids wie Skizzen Das Museum für Fotografie zeigt 300 Aufnahmen

Man sollte häufiger Dinnerpartys besuchen. Vor allem, wenn die Gastgeber June und Helmut Newton heißen. Sie waren legendär bis zu Newtons Tod Anfang 2004. Wer bei ihnen eingeladen war, fand mitunter Polaroids vor sich auf dem Tisch platziert, die Ehefrau June als Tischkarten verwendete. Es ist anzunehmen, dass diese am Ende des Abends mitgenommen werden durften. Heute erzielen Newtons Polaroids Preise bis zu 20 000 Euro.

Im Museum für Fotografie, das auch die Newton Stiftung beherbergt, ist eine Auswahl von 300 solcher Sofortbilder zu sehen, die Newton zwischen 1970 und 2003 als Ideenskizzen für seine Mode- und Aktfotografien machte. Wer jedoch die kleinen nahezu quadratischen Polaroids mit dem typischen weißen Rand an den Wänden erwartet, wird enttäuscht. Bis auf zwei Vitrinen, in denen Polaroids ausliegen, bekommt der Besucher nur deren Vergrößerungen auf bis zu einen Meter zu sehen, weißer Rand inbegriffen.

Als Bildträger dient Alu-Dibond, eine Sandwichplatte, bestehend aus zwei dünnen Aluminiumplatten und schwarzem Polyäthylenkern. Auf deren Rückseite sorgt ein Aluminiumprofil mit Aufhängern dafür, dass das Bild vor der Wand zu schweben scheint. Der Verzicht auf einen konventionellen Rahmen überzeugt, denn diese Form des Bildträgers entspricht der Objekthaftigkeit von Polaroids, und die hochglänzende Oberfläche ähnelt dem Glanz des Originals.

Neben der sporadischen Zweckentfremdung als Tischkarten durch Gattin June lag der eigentliche Zweck der Polaroids darin, als visuelle Vorstudien Lichtsituation und Bildkomposition während der Modeshootings zu überprüfen. Dahinter stand der Wunsch, sofort wissen zu wollen, wie sich die Situation als Bild darstellt. Die Polaroidkamera, das unglaubliche Spielzeug („this incredible gadget“), lieferte – in puncto schneller Verfügbarkeit Vorläufer der digitalen Fotografie – unmittelbare Resultate. Einige der gezeigten Aufnahmen sind an den weißen Rändern zudem mit Verweisen auf Datum, Ort und Auftraggeber beschriftet.

Häufig sollen Newton wenige Aufnahmen genügt haben. Wie die endgültigen Fotos aussehen, darüber lassen sich in der Ausstellung nur Vermutungen anstellen. Eine direkte Gegenüberstellung von Polaroid und finaler Fotografie wurde zugunsten des Kopfkinos vom Ausstellungsbesucher vermieden. Vereinzelt sind jedoch bei der Newton-Stiftung im ersten Stock Endergebnisse der Sofortbilderskizzen zu finden. Diese Suche befördert noch einmal den Dialog zwischen den Geschossen im Museum für Fotografie.

Zugegeben: Die Polaroid-Motive kommen einem bekannt vor. Newton erfindet sich in der Polaroidfotografie nicht neu. Es ist die charakteristische Mischung aus Mode-, Porträt- und Aktfotografie, die sich in den Bildern bekleideter, nackter und halbnackter Frauen artikuliert. Dabei dürfen seine vertrauten Requisiten wie Reitgerten, Handschellen, Prothesen und martialische Ketten nicht fehlen.

Newton benutzt die Polaroids nicht, um zu experimentieren oder „optisch-unbewusste“ Bildlösungen zu finden, indem er spontaner arbeitet. Dennoch gibt es Ausnahmen, in denen der Zufall hereinspielt. Etwa wenn sich bei Außenaufnahmen mondänes Mode-Shooting mit den flüchtigen Momenten der streetphotography kreuzt. So zeigt „Stern“ eine Frau in einem schwarzroten Haute-Couture- Kleid posierend an einem Strommast, während im Hintergrund der Highway- Verkehr vorbeibraust. Zwischen den Wagenkolonnen sticht ein Radrennfahrer heraus. Auf den vielbefahrenen Autobahnen von Los Angeles mutet er ähnlich exzentrisch an wie die „Femme fatale“ im schulterfreien Kleid. Hier treffen sich Modefotografie, entscheidender Moment und Zeitdokument einer amerikanischen Topografie der Achtziger.

Museum für Fotografie, Jebenstr. 2, bis zum 20.11.; Katalog (Taschen) 39,99 €.

Thorsten Freigang

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