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Kultur: Das vergessene Ich der Schneeschuhbinder

Die neue Reihe NATIVE mit indigenen Filmen bietet Einblicke in einen wenig beachteten Bereich des Filmschaffens.

Als der Western „Der gebrochene Pfeil“ Anfang der fünfziger Jahre in die Kinos kam, galt es als eine Sensation, dass die „Indianer“ darin als friedfertige Menschen mit einer reichen Kultur dargestellt wurden. Mittlerweile hat sich die Sicht auf den Film geändert. Dass das den Apachen zugesprochene Symbol des zerbrochenen Pfeils in Wirklichkeit aus der Kultur der Blackfoot-Indianer stammt, ist noch das geringste Problem. Schwerer wiegt, dass diese „Indianer“ untereinander englisch sprechen und von weißen Schauspielern gespielt werden. Der Häuptling Cochise wird von Jeff Chandler gespielt, einem New Yorker Juden.

Die Sensibilität hat zweifellos zugenommen, doch authentische filmische Einblicke in die Lebenswirklichkeit indigener Bevölkerungsgruppen sind nach wie vor schwer zu finden. Die Reihe „Native – A Journey into Indigenous Cinema“ bietet jetzt einen Überblick über fünfzig Jahre indigenes Filmschaffen in Ozeanien und Nordamerika. Wobei, wie Maryanne Redpath, die Kuratorin der Reihe, betont, der Begriff „indigen“ eine behelfsmäßige Bezeichnung ist für „die große Grauzone, durch die wir navigieren“.

Begriffe für ethnische und kulturelle Minderheiten sind generell heikel. Oftmals sind sie kolonialistisch geprägt oder werden als Fremdzuschreibung von den bezeichneten Gruppen abgelehnt. Die lange Zeit geläufige Bezeichnung „Eskimo“ geriet in Verruf, weil sie angeblich „Rohfleischesser“ bedeutet und einen niedrigen Zivilisationsgrad impliziert. Das ist mittlerweile zwar widerlegt – das Wort stammt wohl aus der Sprache der Cree und bedeutet Schneeschuhbinder. Doch die stigmatisierte Bezeichnung „Eskimo“ wurde inzwischen durch die Eigenbezeichnung „Inuit“ abgelöst.

Darin besteht auch der wichtigste Aspekt des indigenen Kinos: im Wechsel der Perspektive, der Ermächtigung vom Objekt zum Subjekt. In ihren Arbeiten wollen sich die indigenen Filmemacher nicht länger dem bestenfalls ethnografischen, schlimmstenfalls kolonialisierenden Blick von außen unterwerfen, sondern ihr Recht auf „audiovisuelle Selbstbestimmung“ geltend machen, wie es der Wiener Videoaktivist Thomas Waibel formuliert, der in Mittelamerika mit indigenen Gruppen Filmprojekte betreibt. Ganz grob lassen sich die Filme in zwei Kategorien einteilen: auf der einen Seite Beschwörungen einer vorkolonialen Zeit, auf der anderen Seite Einblicke in die postkoloniale Realität.

Zur ersten Gruppe gehört der Eröffnungsfilm „Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer“ von Zacharias Kunuk. Die fast dreistündige Verfilmung einer jahrtausendealten Inuit-Sage über einen Schamanenfluch und den Jäger Atanarjuat, der ihn besiegt, verlangt zu Beginn einiges an Geduld, entwickelt dann jedoch einen unwiderstehlichen Sog. Der vielfach preisgekrönte Film bietet einen Einblick in eine aus europäischer Perspektive maximal exotische Lebensform.

Auch „Ten Canoes“, in dem Rolf de Heer und Peter Djigirr eine alte Aboriginal-Geschichte erzählen, und „O le tulafale“ von Tusi Tamasese gehören zu dieser ersten Kategorie von Filmen, in denen die indigene Lebensart noch nicht durch koloniale Hegemonie bedroht ist. Zwar ist „O le tulafale“ im Samoa der Gegenwart angesiedelt, doch er zeigt wie die beiden anderen Filme auch eine Stammeskultur, deren soziale Regeln und Normen von beeindruckender Wirkmächtigkeit sind.

Auf der anderen Seite stehen Zeugnisse indigenen Lebens in der Moderne, die in zermürbender Zuverlässigkeit von Verwahrlosung, Gewalt, Alkoholismus und Armut gekennzeichnet sind. Das Spektrum beginnt mit „The Exiles“ von 1961, dem ältesten Film der Reihe, in dem Kent MacKenzie in traumhaft schönen Bildern zwölf Stunden im Leben einer Gruppe von Native Americans in Los Angeles dokumentiert. Sie betrinken und betrügen, küssen und schlagen sich, bevor sie sich spätnachts auf einem Hügel versammeln und traditionelle Lieder anstimmen, Lieder der Sehnsucht nach einer Kultur, die sie im Begriff sind, für immer zu vergessen.

Neben Ausgrenzung und wirtschaftlicher Not kristallisiert sich der Verlust der Identität in diesen Filmen als das gravierendste Problem indigener Gruppen in modernen Gesellschaften heraus. Das deprimierendste Bild dessen zeichnet der australische Film „Samson & Delilah“ von Warwick Thornton, in dem ein junges Aboriginal-Pärchen den Versuch unternimmt, der Stagnation ihrer entlegenen Siedlung in die Stadt zu entfliehen.

Verhaltenen Anlass zur Hoffnung bieten zwei Dokumentarfilme: in „Ngangkari“, zeigt Erica Glynn zwei Aboriginal-Heiler, die sich Seite an Seite mit Ärzten um das Wohlergehen ihrer Gemeinschaft kümmern. Und in „Saving Grace, Te Whakarauora Tangata“ von der inzwischen verstorbenen Regisseurin Mereta Mita sprechen Maori-Männer über Auswege aus der Gewalt und eine Rückkehr zu den traditionellen Werten.

Native ist eine Filmschau über einen spannenden, schwer zugänglichen und wenig beachteten Bereich des internationalen Filmschaffens. Es passt gut, dass die Filmreihe von Maryanne Radpath kuratiert wurde, die schon als Leiterin der Kinder- und Jugendsektion Generation den Blick über den Tellerrand zum Programm gemacht hat. Es ist zu hoffen, dass die Reise weitergeht. David Assmann

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