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Kultur: Das Wunder der heiligen Knochen

Eigentlich ist das poetisch: Wenn uns das „Lexikon der kuriosesten Reliquen“ zum Lachen bringt, liegt das an uns

Der römische Kaiser Julian meinte schon im vierten Jahrhundert, das Christentum sei eine Leichenreligion, und „immer neue Leichen füge sie der einen alten Leiche hinzu“. Wie recht er hatte. 1200 Jahre später, anno 1520, enthielt allein der Reliquienschatz von Halle zweiundvierzig ganze Heiligenkörper. Damit gewährte er damals 39 Millionen Jahre Ablass. In unserer ach so weltlichen, diesseitigen Zeit entspräche das wahrscheinlich der gleichen Anzahl von Bonusmeilen in einem Vielfliegerprogramm.

Horst Herrmann hat in seinem „Lexikon der kuriosesten Reliquien“ Erstaunliches zusammengetragen. Wir erfahren beispielsweise, dass Bankhäuser in Florenz und Genua im 14. Jahrhundert Reliquienkredite gewährten, Haare Mariens konnten als Sicherheit hinterlegt, Hypotheken auf vermeintliche Gralsbecher aufgenommen werden. Wir lernen, dass es im Geschäft der Banken auch damals hauptsächlich auf den Glauben ankam.

Für die wirklich kuriosen Stellen, an denen das interessierte Grinsen, das die Lektüre dieses Buches fast durchgehend begleitet, in helles Lachen übergeht, sorgt die Kirche selbst, die erst letztes Jahr zu besonderen „hl. Rock-Tagen“ nach Trier einlud. Der „hl. Rock“, der nur alle sieben Jahre gezeigt wird, ein Gewand, das Jesus getragen haben könnte, zählt zur Klasse der „Herrenreliquien“. Zu denen gehören auch die „sancta praeputia“, die Vorhäute Jesu.

In Antwerpen sorgten „speziell bestellte Vorhautkapläne“ für die „angemessene Liturgie, die bis zu feierlichen Hochämtern zu Ehren des hl. Teils reichten.“ Reformation und Aufklärung – Luther sagte nur „Alles tot Ding“ – machten diesen, uns beinah pornographisch anmutenden Vorhautkulten nicht überall ein Ende. Der Bischof von Poitiers erkannte noch im Jahre 1856 eine „wundersam wiederaufgefundene hl. Vorhaut“ als echt an. Und 1874 sollen gleich vierzehn Männer „anschwellende Vorhautringe“ gesehen haben. Nicht verwunderlich, dass der Vatikan im Jahre 1900 anordnete, von nun an sei es „unter Strafe des Kirchenbanns verboten, über diese Vorhäute zu sprechen oder zu schreiben“. Lieber katholischer Leser, zu ihrem eigenen Seelenheil: Bitte erzählen Sie nichts von dem, was sie hier lesen, weiter.

Reliquien, das wird deutlich, wenn man sich durch die „Brosamen vom letzten Abendmahl“ gelesen hat, waren die Requisiten für den Film, der sich im Kopf der Gläubigen abspielen sollte. Und das lange bevor es den Film überhaupt gab. Und nur sehr wenige Bilder, die selbst wiederum zu Reliquien, Bildreliquien werden konnten. Oder Heilige vor der Reliquienwerdung zeigten. Reliquien erzählen deshalb auch eine kleine Mediengeschichte: Sie brachten die Neuigkeit und den Beweis gleich mit. Wo wir heute ein Foto verlangen, reichte dem Gläubigen die Substanz: Substanz und Nachricht fallen in eins. Und es muss gar nicht der ganze tote Körper da sein, es reicht ein Knöchelchen. Wo uns die Nachricht, ein Bild allein genügt, liefert die Reliquie ein Stück von der Leiche. Und ein Wunder ist nie weit. Eigentlich ist das poetisch. Dass es manchmal kurios wirkt, liegt an uns.

Die vergnüglichen Lesestunden mit diesem Buch, das wie ein wertvolles Reliquar in roten Samt eingebunden ist, würden noch vergnüglicher ausfallen, wenn seine Typographie nicht so unmittelbar nachempfinden lassen würde, was manche Heilige durchleiden mussten, bevor ihre Überreste zu Reliquien werden konnten. Vier Schrifttypen und verschnörkelte Versalien auf einer Seite sind eine typographische Marter.

Falls Ihr Interesse, lieber Leser, geweckt ist – Reliquien lassen sich, das Buch weist darauf hin, auch bei Internetauktionen ersteigern. Im April gab es, obwohl die Kirche den Reliquienhandel eigentlich verbietet, z.B. Holz vom Sarg des Dieners Gottes Hieronymus Jaegen und eine Textilreliquie aus der Kleidung von Leopold Bogdan Mandic. Verpackt in einer kleinen Kunststoffhülle. Kann fast immer helfen.

Horst Herrmann: Lexikon der kuriosesten Reliquien. 39 Abbildungen. Rütten & Loening, Berlin 2003. 224 Seiten, 16 €.

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