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Kultur: Das Wunder der Schwerelosigkeit

Er gilt als der häßlichste Rockstar der Welt. Aber im Gegensatz zu vielen anderen, von denen man das Gleiche behauptet, ist das nicht als Beleidigung gemeint.

Er gilt als der häßlichste Rockstar der Welt. Aber im Gegensatz zu vielen anderen, von denen man das Gleiche behauptet, ist das nicht als Beleidigung gemeint. Denn Michael Stipe strahlt dieses gewisse Etwas aus, das ihn unwiderstehlich macht. Eine lakonische Eleganz. Eine grazile Tölpelhaftigkeit. Nichts von dem, was er macht, wirkt jemals peinlich. Man spürt instinktiv: Er ist ein Mönch, der nach Höherem strebt, auf der Suche nach irgendeiner Form der spirituellen Balance. Und manchmal scheint es, als habe er sich bereits in die Ewigkeit verabschiedet.

Als der Sänger von R.E.M. unter dem tosenden Jubel von immerhin 12 000 Zuschauern die Parkbühne in der Wuhlheide betritt, steckt sein Kopf unter einer weiten Kapuze. Sie reicht ihm bis zum Kinn, so daß er jetzt kein Gesicht mehr hat. Eine simple Geste, und doch war in ihr das ganze Rockstar-Programm dieses eigenartig geschlechtslosen Mannes enthalten: die Maskierung der Innerlichkeit. Seitdem die einstigen Pioniere des Alternativ-Rock ohne ihren Drummer Bill Berry auskommen müssen, konzentriert sich die Aufmerksamkeit ohnehin fast ausschließlich auf Michael Stipe. Mike Mills und Peter Buck stehen bescheiden im Hintergrund - und halten die Fäden zusammen.

Noch immer gelingt dieser Band das Wunder der Schwerelosigkeit. In manchen Augenblicken entfalten ihre Songs eine solche melodische Schönheit, daß die Gesetze von Raum und Zeit aufgehoben zu sein scheinen. Es sind vornehmlich Balladen wie "Everybody Hurts", "The One I Love" oder "Disturbance At The Heron House", in denen Stipes unvergleichliche Stimme sich in die Harmoniewechsel hineinlegt wie in ein ungemachtes Bett. Für stadionweite Hysteriewellen entwickelt die Band nur mühsam ausreichend Kraft. Als sie es auf der "Monster"-Tour 1995 mit einem monströsen Punkrock-Gezeter versuchten, war das Ergebnis eher ernüchternd. Die großräumigen Sounds schmieren die spröden, widerspruchsreichen Songideen zu, statt sie als kleine gelungene Perlen zu feiern.

Nachdem die Mammut-Tournee durch allerlei gesundheitliche Rückschläge beeinträchtigt wurde und Bill Berry bei einem Konzert in Lausanne mit Gehirnblutung zusammenbrach, wollten R.E.M. eigentlich auf solche Strapazen verzichten. Berry hatte sich ohnehin entschieden, die drei Freunde zu verlassen, um sich künftig seiner Farm in Georgia zu widmen. So veranstaltete die zum Trio geschrumpfte Band zum Erscheinen ihres aktuellen Albums "Up" zunächst nur eine Reihe sehenswerter Fernseh-Auftritte. Die private Clubatmosphäre kam ihnen und ihrem durch die Neuorientierung angekratzten Selbstbewußtsein entgegen. Gerne hätten sie es wohl dabei bewenden lassen und schlossen noch Ende letzten Jahres eine größere Tournee aus. Doch "Up" hat sich bislang lediglich etwa zwei Millionen mal verkauft. Schon von dem Vorgänger "New Adventures in Hi-Fi" hatten die erfolgsverwöhnten Megastars enttäuschende 4 Millionen Exemplare absetzen können. Das war zu wenig für eine Band, für die der Medienkonzern Warner Brothers vor drei Jahren astronomische 80 Millionen Dollar im voraus bezahlt hatte. Kein Wunder dieser Welt kann diese Summe wieder einspielen. Weswegen R.E.M. bislang ziemlich unbescholten ihre eigenwilligen Kreise ziehen durften. Dennoch dürfte Warner nicht tatenlos zugesehen haben, daß ihre goldenen Aushängeschilder diversen Nebenprojekten nachgingen, Stipe seinen Hang zum Show-Geschäft auslebte, Buck sich als Produzent betätigte und Mills als Filmkomponist in Erscheinung trat. Der Medienriese dürfte einigen Druck ausgeübt haben, um die öffentlichkeitsscheuen Musiker wieder auf eine Weltreise zu schicken.

Daß R.E.M., die Väter des Grunge-Rock, ihre kommerziell erfolgreichste Phase Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre erlebten, sah man dem Publikum in der fast ausverkauften Parkbühne nicht an. Vom gesetzten Mittdreißiger in Belmondo-Schuhen bis zum lavendelumwehten Teenie waren alle Altersgruppen und Selbstfindungsphasen vertreten. Die Band, die sich unter anderem um Joe Waronker, den Schlagzeuger von Beck, und Ken Stringfellow verstärkt hatte, drohte vom riesigen Spanndach der Bühne verschluckt zu werden. Erst als sich der Himmel gegen Ende des Konzerts zu verdunkeln begann, kamen die wunderbaren Lichteffekte zum Tragen. Die Bühne war im Stile einer amerikanischen Weihnachtsdekoration mit Neon-Symbolen behängt. Sie markierten "das übliche R.E.M.-Territorium von Identität, Erinnerung und Träumen, wo sich die reale und die fantastische Welt verbinden", wie Stipe angekündigt hatte. Ein Song wie "This Is My Religion" genügte, um die schwärmerischen Reserven der Zuschauer anzuzapfen.

KAI MÜLLER

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