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Phantom-Bild. Edward Snowden während einer Videokonferenz in Straßburg am 24. Juni 2014.

© AFP

Datenschutz nach Edward Snowden: Internet könnte zum despotischsten Werkzeug der Geschichte werden

Das Internet säuselt den Menschen ständig verführerische Freiheit zu. Längst geht es mit uns ins Bett, bald wandert es unter unsere Haut. Wie wir mit der Despotie des Netzes nach den Enthüllungen des Edward Snowden umgehen.

Es ist ausgesprochen menschlich, aus allem das Beste zu machen und Schlechtes zu ignorieren. Eine gesunde Beziehung gründet in der Fähigkeit, die harmlosen Fehler des anderen zu übersehen. Aber wenn der eine schwere Fehltritte des anderen nicht anzusprechen wagt, gerät die Beziehung aus dem Lot. Der Ehemann, der von den Affären seiner Frau nichts wissen will, die Eltern, die vor dem Drogenkonsum ihres Kindes die Augen verschließen, der Angestellte, der sich über die Schikanen seines Chefs ausschweigt: Sie alle rechtfertigen sich mit zuweilen bezwingenden Gründen: „Du verstehst das nicht“, kann man da etwa hören, „er/sie kann auch sehr nett sein.“ Oder: „Von jetzt an wird alles besser.“ In der Psychologie nennt sich dies kognitive Verzerrung.

Derzeit müssten sich einer solchen Verzerrung viele bezichtigen – und zwar in einer ganz besonderen Hinsicht. Sie begann, zumindest für die Älteren unter uns, mit einem sperrigen, unbeweglichen Gegenüber. Dieser Gefährte kannte seine Grenzen und übertrat sie nicht, während sein langes Kabel sich zur nächstgelegenen Steckdose wand. Diese Beziehung richtete sich weitgehend nach deinen Bedingungen. Doch mit der Zeit wurde der Freund entspannter und beweglicher, er zeigte sich in zusehends kleinerem Gewand und aufreizendem Äußerem, er passte erst in die Hand- und dann sogar in die Hosentasche. Bald wird er wohl unter der Haut sitzen, wo er dich doch längst überallhin begleitet und nachts neben dem Bett liegt. Dieser verblüffende Freund, das Internet, entwirft ein Bild von dir und spiegelt zugleich ein Bild der Welt zurück.

Dann enthüllte Edward Snowden, dass es sich bei eurem lauschigen Verhältnis um eine Ménage-à-trois handelt. Staaten und Firmen sammeln, analysieren und horten Daten über alles, was du mit deinem Freund anstellst. Du denkst, das kann so nicht weitergehen, etwas muss sich ändern. Zugleich summt und säuselt dein Freund dir verführerische Meldungen vor, bietet dir Upgrades, Freebies und die coolsten Apps an, er ist der Freund, über den alle anderen Freunde dich erreichen. Also siehst du über seine Untreue hinweg und versuchst, nicht daran zu denken, dass er dich verletzen kann. Die Zeichen sind eindeutig: Du leidest an kognitiver Verzerrung. Auch ich leide daran.

Kein Begriff von Privatsphäre

Seit Edward Snowdens Enthüllungen habe ich mit vielen gesprochen, die sagten: „Ich will mein Verhalten nicht von Grund auf ändern.“ Die Leute glauben, ein Recht darauf zu haben, einem selbst gewählten Kreis alles das preiszugeben, wonach ihnen gerade ist, während der Staat dazu verpflichtet ist, sie mithilfe von Gesetzen davor zu schützen, dass niemand außerhalb dieses Kreises die Informationen verwertet. Zunächst erschien mir das wie ein Widerspruch. Wie können wir Respekt vor unserer Privatsphäre verlangen, während wir zugleich immer neue Grade der Entblößung erreichen? Wenn man unter dem Hashtag #aftersex postkoitale Selfies auf Instagram veröffentlicht, sorgt man sich wahrscheinlich nicht ernsthaft um seine Privatsphäre. Zugleich komme ich nicht um den Gedanken herum, dass Leute, die derart intimes Material publik machen, keinen Begriff von Privatsphäre haben.

In dem Maß, in dem die steigenden Kapazitäten der Datenspeicherung unsere digitalen Schatten wachsen lassen und jede Tastaturbewegung und jeden Mausklick aufzeichnen, werden Vergessen, Loslassen und die Fähigkeit, Dingen den Rücken zuzukehren, immer schwieriger. In der digitalen Welt bleibt alles auf Dauer bestehen, und selbst wenn man selbst keinen Zugang zu den entsprechenden Daten mehr haben sollte – dann wird ihn jemand anders haben. Die Massenüberwachung ist so gefährlich, weil unsere Datenspur uns der Gnade von Menschen ausliefert, die uns nicht kennen und sich nicht wirklich für uns interessieren, außer als Mittel abstrakter Ziele wie „Sicherheit“ und „Marketing“.

Exil ist in der interNETionalen Welt nicht mehr möglich. Wohin denn?

Phantom-Bild. Edward Snowden während einer Videokonferenz in Straßburg am 24. Juni 2014.
Phantom-Bild. Edward Snowden während einer Videokonferenz in Straßburg am 24. Juni 2014.

© AFP

Denen, die sagen „Ich habe nichts zu verbergen“, lässt sich nur entgegenhalten: Wir haben alle etwas zu verbergen, je nachdem, wer uns beobachtet und was er mit seinen Informationen anfangen will. „Man gebe mir sechs Zeilen, geschrieben von dem redlichsten Menschen, und ich werde darin etwas finden, um ihn aufzuhängen“, erklärte Kardinal Richelieu im 16. Jahrhundert. Jedes Zeitalter hat seinen Richelieu. Deshalb ist es so entscheidend, ein strengeres internationales Regelwerk zur Nutzung unserer Daten zu entwickeln. Natürlich lassen sich Menschen nicht per Gesetz dazu bringen, die eigene Privatsphäre für schützenswert zu halten, aber es kann andere zwingen, diese Privatsphäre zu respektieren.

In totalitären Staaten hatten Bürger die Wahl zwischen innerer Emigration, Widerstand oder Exil. Die innere Emigration war der Versuch, den Status quo nicht infrage zu stellen, in der Hoffnung, nicht bemerkt und in Ruhe gelassen zu werden. Zum Widerstand gehörte es, die bestehende Ordnung anzufechten und etwas zu riskieren, zur Not das eigene Leben. Das Exil verband sich mit der Hoffnung, woanders größere Freiheit zu finden. Heute ist das Exil keine Option mehr. Die interNETionale Ordnung bringt es mit sich, dass wir verfolgt und beobachtet werden, wo immer wir hingehen. Sogar offline genießen wir keinen Schutz. Das soll nicht heißen, dass ein technologischer Rückzug keine Wirkung hätte, im Gegenteil. Doch er wäre auch unverantwortlich, weil sich Freiheit nicht einfach dadurch erhalten lässt, dass man einer Bedrohung aus dem Weg geht. Die Freiheit braucht Beschützer, man kann einem System nicht widerstehen, indem man sich einfach ausklinkt. Widerstand ist ein aktiver Zustand, er verlangt nach der Anstrengung des Denkens.

Wir müssen uns erlauben, pessimistisch zu sein

Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman behauptet, „wir haben den Mut, das Durchhaltevermögen und vor allem den Willen verloren, solche Rechte auf Dauer zu verteidigen“. Ich weigere mich, das zu glauben. Mir scheint, dass die Menschen handeln würden, wenn sie nur wüssten, wie. Wir sollten uns klar darüber sein, dass wir zumindest dadurch ein gewisses Maß an Kontrolle zurückerlangen können, indem wir unser Denken verändern, auch wenn wir im Praktischen nichts bewirken. Wir müssen uns erlauben, pessimistisch zu sein. In einem philosophischen Sinn ist dieser Pessimismus geprägt von einer Weltsicht, die den Realitäten ins Auge sieht und dabei unvernünftige Hoffnungen und Erwartungen verwirft. Mir persönlich gefällt Will Selfs lakonische Einschätzung des Pessimismus als „einer Bereitschaft zu akzeptieren, dass es in einer unvollkommenen Welt immer zum Schlimmsten stehen kann.“ Über das Schlimmste nachgedacht zu haben, heißt, darauf besser gefasst zu sein.

„Der erfahrene Krieger/verlässt sich nicht auf das Ausbleiben/des Gegners/Sondern auf seine eigene Kampfbereitschaft“, schrieb Sun Tzu in „Die Kunst des Krieges“. Es mag übertrieben erscheinen, von Massenüberwachung in solch militaristischen Begriffen zu sprechen, doch das Reich des Digitalen ist eine Art von Schlachtfeld. Der britische Nachrichtendienst GCHQ sieht es bereits so. Auf seiner Website erklärt er: „Online ist die neue Frontline.“ Wir Bürger sind das Angriffsziel. Staatliche Behörden sind auf unsere Daten im Namen von Sicherheit aus, während Unternehmen es unter dem Vorwand des Kundenservice sind. Die Vorzüge unserer heutigen Demokratie sind hart errungen – gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Nun zieht eine Drohung ganz anderer, doch nicht weniger gefährlicher Form herauf. Das Internet könnte zum despotischsten Werkzeug der Geschichte werden.

Der Herzschlag als ultimatives Passwort

Der Schlachtruf der Aufklärung lautete „Sapere aude“: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Jetzt ist eine digitale Aufklärung überfällig. Bis vor kurzem begrüßten wir fast jeden technologischen Fortschritt, wir dachten nie daran, dass „man selbst das Produkt ist, wenn das Produkt nichts kostet“, wie es Nicolaus Fargo, der Chef des belgischen Datenschutzzentrums, scharfsinnig formulierte. Wir haben bereits in Kauf genommen, dass unsere Iris als Identifikationsmerkmal benutzt wird. Werden wir Unternehmen auch unsere Herzen zur Verfügung stellen? Der Herzschlag jedes Einzelnen ist unverwechselbar. Eine Firma namens Nymi bietet bereits an, ihn als ultimatives Password für alle digitalen Geräte einzusetzen.

Was uns zu den Herzensangelegenheiten des Anfangs zurückbringt. Warum brechen wir aus schlechten Beziehungen nicht aus? Weil wir nicht alleine sein wollen. Zögern wir deshalb, auf Abstand zu unserem Freund, dem Internet, zu gehen? Wir fürchten, ins Hintertreffen zu geraten, etwas zu verpassen, auch nur eine Sekunde lang einsam zu sein. Aber wenn wir jetzt keine Grenzen setzen, wird sich diese digitale Liaison in eine fatale Affäre verwandeln, bis wir irgendwann – zu spät – die Wahrheit erkennen, die Margaret Atwood auf die kühle Formel brachte, dass es „eine Form von Einzelhaft sei, ausschließlich als öffentliche Person zu leben“. Dies ist die Einsamkeit, die wir unbedingt vermeiden sollten.

Priya Basil, 1977 in London geboren und in Kenia aufgewachsen, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Auf Deutsch erschien bei Schöffling zuletzt ihr Roman „Die Logik des Herzens“. Ihren Essay hat Gregor Dotzauer aus dem Englischen übersetzt.

Priya Basil

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