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David Wagner auf der Leipziger Buchmesse.

© picture alliance / dpa

David Wagner über 50 Jahre Peter Szondi-Institut: Wege zum Hüttenweg

Blaue Stunden: Der Schriftsteller David Wagner erinnert sich an seine Zeit am Peter Szondi-Institut.

Die Anreise lohnte sich immer. Schon der Weg war schön, durch den Thielpark und seine Senke, durch den Schwarzen Grund. Am Eingang der Institutsvilla grüßten bunte Kacheln, ein neusachliches Mosaik. Manchmal saß Christiane Rösinger im Vorraum der Bibliothek, noch war sie Hilfskraft, Popstar wurde sie erst später. Es durfte geraucht werden in der Bibliothek, im Wintergarten, ja. Nachmittage habe ich da versessen und den Füchsen auf der Wiese zugesehen. Anfangs war der Pool noch offen, das Wasser grün, einmal haben wir gebadet. Es gab so viel zu lesen. So viele Bücher, so viele Sammelbände. Wann werde ich das alles gelesen haben? Hatten alle anderen schon alles gelesen? Wussten sie alles? Einige taten zumindest so ...

„Ich gehe in ein anderes Blau“ stand außen auf dem Schnellbau. Wer hatte das da hingesprüht? Mir gefiel’s, ich ging mit, ging mit ins "Petra-Szondi-Institut", auch das hatte jemand quer über die Fassade gesprayt. Die Luft war oft schlecht im großen Seminarraum, es wurde so viel gedacht, geredet und geraucht. Hin und wieder wurde auch gelüftet. Wieder ein Referat, ach ja, Kommilitonen kochen auch nur mit Wasser, manche kochten allerdings mit Wein. Einmal schlief die Lehrkraft ein. Anregend auf die eine oder andere Weise war es immer – selbst wenn es angenehm langweilig war.

Der Schnellbau (tolles Wort, mir nur für dieses Gebäude bekannt) hatte Fensterbänder auf beiden Seiten. Und also Ausblick. Kritzeln ging immer – und wenn es nur Notizen für nie abgeschickte Liebesbriefe waren. Hausarbeiten zu schreiben, konnte sich über Wochen, Monate, Semester hinziehen. Es sollte ja wieder etwas ganz Besonderes werden. Oder waren wir vielleicht bloß faul? Anzufangen, einfach anzufangen, war ein Problem. Hatten wir nicht alle Zeit der Welt?

Es ging darum, sich einen Jargon anzueignen, zu imitieren, in Stimmen zu reden, mitzureden, Nietzsche und die Postmoderne? Benjamin? Wie? Was? Derrida selbst hat hier am Institut unterrichtet? Ich bin zu spät, habe das Eigentliche verpasst, alles Großartige ist schon gewesen ... Manchmal kam ich mir ein bisschen dumm vor. Was wollte Deleuze mir sagen? Und wann würde auffallen, dass ich gar nicht alles verstand?

Ich las kreuz und quer, nicht immer das, was ich eigentlich lesen sollte – die Bücher in den Seminarapparaten der anderen Seminare schienen interessanter. Ich saß am Fenster und las, am liebsten Zeitschriften. Und wollte, der Wunsch, ach die Sehnsucht, auch mal was schreiben. Hatte ich etwas zu erzählen? Das Gefühl war diffus. Vielleicht nur dieses diffuse Gefühl beschreiben? Zeit war genug. Ich erinnere mich an keine Pflichtveranstaltungen. Oder habe ich die vergessen? Nachmittags um fünf blies die Trompete auf der benachbarten Alliierten-Kaserne zum Zapfenstreich. Es kam vor, dass sie mich weckte. Die Amerikaner sind lange abgezogen, das Institut ist umgezogen – manchmal sitze ich trotzdem noch dort, Hüttenweg 9.

Dieser Text ist dem Jubiläumsband „Nach Szondi“ zum 50. Geburtstag des Peter Szondi-Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwisssenschaften entnommen (Kadmos Verlag, 544 S., 29,80 €).

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