zum Hauptinhalt
Von Krisengipfel zu Krisengipfel sind Nicolas Sarkozy und Angela Merkel im Jahr 2011 geeilt. Wo aber blieb da die demokratische Legitimation?

© Reuters

Debatte: Demokratie? Bin ich nicht für zuständig

Die Institutionen versagen, die Politik verabschiedet sich. Unser System verdampft, weil der Markt allein das Geschehen reguliert. Und alle schauen zu.

Noch nie in der europäischen Nachkriegsgeschichte gab es einen solchen Totalausfall gesellschaftswissenschaftlicher Zeitdiagnose wie heute: Da werden ohne parlamentarische Legitimation souveräne Staaten in Protektorate ohne finanzpolitisches Mandat verwandelt, da finden unablässig Krisengipfel statt, auf denen an den Parlamenten vorbei tief in die Zukunft reichende Beschlüsse gefasst werden, da erodieren Politik- und Systemvertrauen in atemberaubender Geschwindigkeit, ohne dass an den Universitäten und Akademien, in den Zeitungs- und Radiofeuilletons sich Politik-, Sozial- und Geschichtswissenschaftler mit Analysen dazu vernehmen ließen, was da gerade geschieht.

Keine Exzellenzuni schafft es, ein Symposium zum Beispiel zu der Frage zu veranstalten, was Demokratiegefährdung heute bedeutet, kein akademisches Journal widmet sich der beispiellosen Umverteilung von Volks- in Privatvermögen. Die sonst so gern vorgezeigten Hochkaräter der akademischen Landschaft sind ausgerechnet dann unsichtbar, wenn es tatsächlich mal um mehr geht als um Cluster, Credit Points, Peer Reviews und andere Possierlichkeiten.

Bis auf die Ökonomen: So wie in der wirklichen Welt das Heft des Handelns den Finanzmarktakteuren – also den Banken, Investoren, Rating-Agenturen – überantwortet worden ist, die ganze Volkswirtschaften in Geiselhaft nehmen, so bleibt die Deutung der Krise ausgerechnet jener Wissenschaft überlassen, die sich jahrzehntelang in reiner Affirmation dessen ergangen hat, was auf „den Märkten“ eben so geschieht.

Hinterzimmer der Macht. Oder der Machtlosigkeit? Kanzlerin Angela Merkel unlängst beim EU-Gipfel in Brüssel.
Hinterzimmer der Macht. Oder der Machtlosigkeit? Kanzlerin Angela Merkel unlängst beim EU-Gipfel in Brüssel.

© REUTERS

„Postdemokratie“ hat Colin Crouch die fatale Arbeitsteilung genannt, die Politik als Angelegenheit von Politikern, Experten und Lobbyisten betrachtet und das demokratische Gemeinwesen in bloßes Publikum verwandelt. Das ist schon unter Normalbedingungen gefährlich, weil die für Demokratien lebensnotwendige politische Öffentlichkeit verschwindet. Im Krisenfall werden in der Postdemokratie Entscheidungen nicht mehr politisch begründet, sondern nur noch attentistisch: es herrscht Zeitdruck, Alternativen gibt es nicht. Parlamente werden nicht gefragt – die Materie ist für durchschnittlich begabte Abgeordnete ohnedies zu kompliziert. Die EZB wird in eine Bad Bank verwandelt und der notorische IWF in eine imperiale Position manövriert – „die Märkte“ sind nämlich „beunruhigt“.

Und kein Philosoph oder Linguist entlarvt das Marktgefasel als Werfen von ideologischen Nebelkerzen, kein Politikwissenschaftler, keine Soziologin beschreibt den historisch beispiellosen Raubzug, der vor ihren Augen stattfindet, kein Historiker seine Folgen für die künftigen Blockierungen einer gestaltenden Bildungs-, Wissenschafts-, Umwelt-, Sozial- oder Gesundheitspolitik.

Weiß eigentlich jemand, woran Demokratien scheitern? Nein.

Weiß eigentlich jemand, woran Demokratien scheitern? Nein. Denn nach dem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg und der idyllischen Vorstellung, der sich globalisierende Wirtschaftsliberalismus würde automatisch die Globalisierung der Demokratie nach sich ziehen, machte sich kaum noch jemand die Mühe, die Gefährdungspotenziale und Zerfallsfaktoren moderner Gesellschaften zu untersuchen. Man ging einfach davon aus, dass alles schön stabil und sicher sei und schaute allenfalls darauf, welche systemfremden Feinde – vom Typ Al Qaida – die Demokratien erklärtermaßen bedrohten.

Dabei sind moderne Gesellschaften womöglich viel stärker durch höchst systemkonform aussehende suprastaatliche Akteure gefährdet als durch Terroristen. Die ETH Zürich hat unlängst eine Netzwerkanalyse publiziert, die akribisch nachweist, dass die wirtschaftliche Macht auf dem Planeten sich auf gerade mal 147 Unternehmen konzentriert; die 50 stärksten davon kommen mit nur einer einzigen Ausnahme sämtlich aus der Finanz- oder Versicherungswirtschaft. Diese Player sind, die Euro-Krise führt es vor, in der Lage, Regierungen nach Belieben unter Druck zu setzen. Und die reagieren mit ihren atemlosen Gipfeln und Rettungsschirmen als bloße Erfüllungsgehilfen: indem sie Spardiktate verhängen, Referenden verhindern, Staatseigentum verscherbeln und das politische Mandat an einen Markt delegieren, dessen schlichte Funktionslogik sie nicht verstehen oder nicht zu verstehen vorgeben. Der Markt funktioniert (und funktionierte immer) nach der einzigen Maxime, die Vorteile der Marktakteure zu erhöhen.

Dass diese Logik keine Selbstbegrenzung vorsieht, ist klar; gerade deshalb wurden ja jene Regulierungen geschaffen, die – wie unvollkommen auch immer – ein Primat des Staatlichen durchzusetzen und aufrechtzuhalten versuchten.

Genau das verschwindet gerade vor aller Augen und mit ihm der Vorrang, der demokratischen Verfahren und rechtsstaatlichen Prinzipien vor allem anderen zukam. Es ist erschütternd, wie ganze Gesellschaften inklusive ihrer Deutungseliten dabei zuschauen, wie sie entdemokratisiert werden. Die Verantwortungslosigkeit liegt dabei vielleicht gar nicht so sehr bei den Politikern oder der Kanzlerin, die wie Laborratten durch ein verhaltenswissenschaftliches Experiment gejagt werden und unter Stress den Ausgang immer an der falschen Stelle suchen.

Verantwortungslos sind alle, die nicht eingreifen. Und besonders die Funktions- und Deutungseliten, deren Indolenz auch noch staatlich finanziert wird. Aber die sind vermutlich zur Zeit vor allem damit beschäftigt, die richtige Anlage für ihre Kröten zu finden und haben gerade keine Zeit, sich um den Schutz der demokratischen Ordnung zu kümmern. Es steht zu befürchten, dass Demokratien unter Stress genau daran scheitern: nicht an der abgelaufenen Halbwertzeit der Macht wie im Fall von Diktaturen, sondern an einer kollektiven Haltung von Unzuständigkeit. Wenn niemand die Demokratie für seine eigene Angelegenheit hält, hat sie sich schon erledigt.

Harald Welzer ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Zuletzt veröffentlichte er „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“ und zusammen mit Sönke Neitzel „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ (S. Fischer Verlag). Im Haus der Kulturen der Welt Berlin initiierte er mit Carolin Emcke, Joseph Vogl, Roger Willemsen u. a. die Veranstaltung „Angriff auf die Demokratie. Eine Intervention“.

Harald Welzer

Zur Startseite