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Kultur: Dem Leben entgegen

Eine Retrospektive im Berliner Gropius-Bau ehrt den US-Fotoreporter W. Eugene Smith

Das erste Porträt zeigt einen drahtigen Mann von Anfang zwanzig mit jugendlichem Lockenkopf, der sich, seine Kamera im Anschlag, über die Brüstung eines Hochhauses beugt, dem Leben entgegen. Auf dem letzten Bild, das gut 30 Jahre später entstand, blickt derselbe Mann, nun mit verwuscheltem Resthaar und weißem Hemingway-Bart, dem Betrachter unter tief hängenen Lidern unendlich müde entgegen.

So beginnt die Retrospektive von Werken des Fotoreporters W. Eugene Smith im Berliner Martin-Gropius-Bau: mit Porträtaufnahmen des Künstlers, die sich zu einer Galerie des Verfalls fügen. Smith, der für Magazine wie „Newsweek“ und „Life“ arbeitete und sich zeitweilig der berühmten Agentur Magnum anschloss, gehört zu den wichtigsten Fotografen seiner Zeit. Aber er war auch jahrzehntelang alkohol- und drogenabhängig. Als er 1978 verarmt und verbittert in Tucson, Arizona, starb, war er 59, sah aber mindestens zehn Jahre älter aus.

„Meine Arbeit ist ein Misserfolg, gemessen an dem, was ich gerne erreichen würde“, hat Smith gegen Ende seines Lebens konstatiert. Überambitionierte Pläne sind zum Scheitern verurteilt, deshalb muss es dem Fotografen darum gehen, „dieses Scheitern auf das kleinste Maß zu reduzieren“. Was er mit seinen Bildern beim Betrachter erreichen will, ist nicht wenig: Anteilnahme. Für seine groß angelegten Reportagen, die er „Essays“ nennt, versucht er, mit dem Thema so weit wie möglich zu verschmelzen. Er will ein „willkommener Gast und kein Fremdling“ sein, die Menschen, die er mit der Kamera begleitet, sollen vergessen, dass er ein Journalist ist.

Ein Ansatz, der schnell mit den redaktionellen Abläufen in Konflikt geraten kann. Als Smith 1948 von „Life“ für eine Reportage über den Landarzt Dr. Ernest Ceriani nach Colorado geschickt wird, macht er in 23 Tagen und Nächten mehr als 2000 Aufnahmen. Die New Yorker Zentrale fordert ihn in mehreren Telegrammen auf, zurückzukehren, doch er kabelt zurück: „Wenn ich jetzt gehe, gefährdet das die Reportage.“ Die Bilder zeigen einen Helden des Alltags bei seinem selbstlosen Einsatz. Dr. Ceriani kämpft sich mit hochgeschlagenem Kragen durch den Regen zu den ärmlichen Häusern seiner Patienten, auf einem von Smiths berühmtesten Fotos türmt sich ein dramatisch verdunkelter Wolkenhimmel über den gramgebeugten Schultern des Mediziners. Der Landarzt verteilt Impfungen in einer Schule, trägt Verletzte zum Krankenhaus, operiert, entbindet und lehnt mit OP-Kittel und Zigarette in Sinatra-Pose an einem Küchenschrank. Bildzeile: „Dr. Ceriani nach dem Tod einer Mutter und ihres Kindes bei der Geburt.“

Die vom Kulturzentrum La Fabrica in Madrid konzipierte Ausstellung konzentriert sich auf sechs große Reportagen aus dem überbordenden Werk des obsessiven Fotografen. Smith reist 1950 in ein abgelegenes Dorf des franquistischen Spanien und entdeckt eine malerisch vormoderne Welt, in der Frauen in schwarzer Tracht auf der Straße Garn spinnen und das Wasser in Krügen aus dem Brunnen geholt wird. Für ein Gegenstück zum Landarzt-Essay begleitet er die schwarze Hebamme Maude Callen im von Armut und Rassendiskriminierung geprägten South Carolina. Als er Albert Schweitzer in seinem Urwaldspital Lambarene im heutigen Gabun besucht, stilisiert er den Arzt und Missionar zum „Mann der Barmherzigkeit“ und reproduziert mit seinen heroisierenden Aufnahmen das Bild eines Übermenschen, der den Eingeborenen nicht bloß Essen und Medizin, sondern auch Kultur gebracht hat.

Weil Smith nicht an der Bildauswahl und dem Layout der gedruckten Reportage beteiligt wird, kommt es 1955 zum endgültigen Bruch mit „Life“. Anschließend erhält er von der Agentur Magnum den Auftrag, in zwei oder drei Wochen einige Hundert Fotos für einen Jubiläumsband über Pittsburgh zu machen. Stattdessen wird er dem Projekt am Ende vier Jahre, große Teile seines Privatvermögens und rund 13 000 Aufnahmen widmen, von denen nur 88 publiziert werden. Die Ausstellung zeigt riesige Tafeln mit Arbeitsabzügen und Layouts mit handschriftlichen Anmerkungen einer ins Enzyklopädische zielenden Arbeit. Smith zeigt spielende Kinder, auf den Bus wartende Angestellte, Liebespaare, Politiker, Bauarbeiter und immer wieder die rauchenden Schornsteine der kathedralenartig aufragenden Eisenhütten. Auf den Bildern aus den Stahlwerken fließt das Metall in silbrig-weißen, dampfenden Strömen. Die Arbeiter an den Hochöfen wirken mit ihren Schutzbrillen und Lederschürzen wie gusseiserne Sisyphos-Statuen.

W. Eugene Smith habe Bilder gemacht, die „realer als real“ seien, hat ein „Life“- Fotoredakteur gesagt. Ein zweischneidiges Lob, denn Smith hat die Wirklichkeit nicht einfach so wiedergegeben, wie er sie vorfand, sondern oft auch aufwendig arrangiert, etwa durch seine Lichtregie. Inzwischen hat das Pathos seiner Aufnahmen Patina angesetzt. Die Farbfotografie lehnte der Kulturpessimist ab, weil sie Gefühlswelten „vulgarisiere“. So ist er schon am Ende seiner Karriere von den jungen Fotografen des beginnenden Pop- Zeitalters überholt worden, die einen anderen, entspannteren Zugang zu der Welt fanden, die sie umgab,

Martin-Gropius-Bau, bis 27. November, Mi-Mo 10-20 Uhr. Katalog im Kehrer Verlag, 240 Seiten, 39,80 €

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