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Kultur: Demokratie, Dynastie

Wir schalten um nach gestern: Eindrücke aus der amerikanischen Nacht

Philadelphia, im Jahr 2035. Wilde Tiere schreiten majestätisch durch die Ruinen. Ein Virus hat die Menschen vernichtet – in Pennsylvania und überall sonst auf der Welt. Anno 1996 kam die Apokalypse. Unsere einzige Hoffnung: Ein stahlharter Kämpfer wird aus der Zukunft in die Vergangenheit zurückgeschickt, um die Epidemie vor ihrer Entstehung zu stoppen. Die Bush-Doktrin nennt das preemptive strikes. Angreifen, zupacken, bevor etwas anbrennt.

Wir sind mittendrin. In Terry Gilliams biomedizinischer Horrorvision „Twelve Monkeys“ tritt der Kinoheld Bruce Willis (heute ein bekennender Bush-Anhänger) als Retter der Menschheit auf; ähnlich wie in den „Terminator“-Epen Arnold Schwarzenegger, inzwischen republikanischer Gouverneur von Kalifornien. Wir sind immer noch und wieder mittendrin. In der Zeitschleife, nach der amerikanischen Wahlnacht.

Das Kino bietet weder Trost noch Ausweg. Es gleicht einer Falle. Auf der großen Wahlparty im Berliner Sony-Center lief als Preview „The Manchurian Candidate“ von Jonathan Demme. Ein grober Plot, in groben Zeiten: Golfkrieg, Gehirnwäsche, Verschwörungstheorien, klandestiner Staatsstreich in Washington, gesteuert von einem global operierenden Konzern (Halliburton?!) Wir sehen da Bruno Ganz (war er nicht eben noch Hitler?) als halbwahnsinnigen deutschen Wissenschaftler, der das Gute will und am Ende doch das Böse schafft.

Nein, noch kommt kein deus ex machina, der die Lähmung lösen könnte. Es sei denn, dass Osama bin Laden diese Rolle zukommt, wenn er denn tatsächlich mit seiner aufreizenden Video-Predigt vom Wochenende das Patt verhindert und Bush zum Sieg verholfen hat.

Gibt es eine unheimliche Lust an der Wiederholung, an der Angst? Zwei Kriege hat George W. Bush geführt, in Afghanistan und im Irak. 100 000 zivile Opfer, so Schätzungen, sind seit Kriegsbeginn im Zweistromland zu beklagen – und über 1000 getötete amerikanische Soldaten. Bush und Kerry leisteten sich den hässlichsten und – mit mehreren Milliarden Dollar – teuersten Wahlkampf aller Zeiten. Das Staatsdefizit der USA steht auf Rekordhöhe. Das Ereignis, das Bushs erste Amtszeit aufs Tiefste und Schrecklichste prägte: Das war das Inferno vom 11. September 2001.

So unendlich viel ist passiert seit den quälenden Wochen des Florida-Recounts und des Gezerres vor dem Supreme Court im Winter 2000. Dennoch ähnelte der Wahlverlauf 2004, trotz einer viel höheren Wahlbeteiligung und einiger verschobener Koordinaten, bis zu Kerrys Eingeständnis der Niederlage dem Ausgang vier Jahre zuvor. Allerdings gewann damals noch Al Gore – vergeblich, wegen des amerikanischen Wahlsystems – die absolute Mehrheit der Stimmen. So viel Ungeheuerliches ist seither geschehen, jedoch, und das ist das wirklich Makabre, die Mehrheit der amerikanischen Wähler wollte keinen Wechsel.

Ist die amerikanische Nation derart zerrissen, dass sich beide Seiten nun unversöhnlich gegenüberstehen? Werden sich die USA in den kommenden Jahren weiter spalten, kulturell, sozial, im Glauben? „Der neue Präsident steht vor einer fast unmöglichen Aufgabe“, schrieb die New York Times gestern am Morgen nach der Wahl im Leitartikel: „Der nächste Oberbefehlshaber wird mit dem Versagen beider Parteien konfrontiert sein, die Bürger nicht auf schlechte Nachrichten und gemeinsame Opfer vorbereitet zu haben.“

Bush reloaded: Das Serielle der Pop-Kultur hat die amerikanische Politik erfasst. Die Bush-Family in der Wahlnacht im Weißen Haus, so komfortabel wie erregt in der Sofaecke beieinander sitzend: Fernsehbilder einer Dynastie. „Dallas“, zurückgedreht in die Wirklichkeit. Wir schalten um zur Wiederholung. Vietnam war nie vergessen, doch im Irak bahnt sich eine Art Vietnam-Remake an. Auch ein Präsident (und Vietnam-Veteran) John Kerry hätte keinen schnellen Weg aus der militärischen Bedrängnis gewusst.

„Was ist die amerikanische Regierung anders als eine Tradition – wenn auch eine recht junge –, die danach strebt, sich selbst ohne Machteinbuße für die Nachwelt zu erhalten, die dabei aber in jedem Augenblick mehr von ihrer Glaubwürdigkeit verliert?“ Das schrieb H. D. Thoreau 1849 in seinem Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“.

Der Beobachter der amerikanischen Wahlnacht konnte irgendwann in diesem Morgengrauen nur konsterniert aufgeben. Das Fernsehen aber ist ein hypnotisches Medium. Man schaltet Stunden später wieder ein, und das Bild hat sich einmal mehr stabilisiert. Die Bush-Leute knipsen ihr Siegerlächeln an, und Kerrys Team beginnt sich in die fatale Wiederholung zu fügen, on the banks of the Ohio.

Rüdiger Schaper

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