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Kultur: Der A.-H.-Effekt

Wer im Tagesspiegel ein Artikelchen schreiben möchte, muß seinem Artikelchen zunächst einmal ein Stichwort im Computer geben.Dieses hier heißt "Hitler".

Wer im Tagesspiegel ein Artikelchen schreiben möchte, muß seinem Artikelchen zunächst einmal ein Stichwort im Computer geben.Dieses hier heißt "Hitler".Das Stichwort war noch frei.Daran erkennt man, daß wir eine tadellos antifaschistische, wenn auch etwas altmodische Redaktion sind.

Was haben Adolf Hitler, ein behindertes Kind und ein Embryo gemeinsam? Sie sind alle drei Signale der Werbung.Der "Stern" plakatiert in den Städten riesige Embryo-Bilder, mit dem Slogan: Große Fotos muß man groß zeigen.In der neuen Benetton-Kampagne tragen behinderte Kinder Benetton-Kleidung.Und der "Spiegel", dessen Gründer Augstein morgen 75 Jahre alt wird, hat in mehreren Tageszeitungen ganzseitige Hitler-Porträts geschaltet.Unter dem Hitlerkopf steht: "Sehen Sie der Geschichte ins Gesicht." Wer umblättert, stößt auf eine zweite, ebenfalls ganzseitige Anzeige, mit dem Gesicht eines verstörten Hitlerjungen, Ausschnitt aus einem berühmten Foto der letzten Kriegstage.Erst auf dieser zweiten Seite erfährt der Leser, daß es sich um "Spiegel"-Werbung handelt.

Alle drei Kampagnen zeigen, was üblicherweise nicht oder nicht so groß gezeigt wird.Aus unterschiedlichen Gründen, versteht sich: Es ist falsch, vor dem Bild eines behinderten Kindes zurückzuzucken, gewiß, das wissen wir.Aber Hitler? Bei den betroffenen Zeitungen, darunter "FAZ" und "Süddeutsche", gab es vereinzelte Leserproteste.Vermutlich handelte es sich dabei um ältere Mitbürger.Tabubruch, Provokation, einst waren das Domänen der Kunst.Inzwischen ist der Tabubruch so trivial geworden, daß er in die Werbung paßt.Provokation ist Konsens.

So paradox es klingt: Der große, nur noch mäßig aufregende Hitler-Kopf in der "FAZ" ist auch eine Folge der Demokratisierung unseres Blickes.Vor zwanzig Jahren hatten die Bilder, die uns in der Öffentlichkeit begegneten - in der Zeitung, im Fernsehen, auf Plakaten - fast immer einen Hauch von Autorität.Es war das Medium, das zu uns sprach - was die Zeitung zeigt, dahinter steht sie auch.Diese Verbindung hat sich aufgelöst.Jedes Bild steht für sich selbst, als bindungsloses Individuum, seine Botschaft muß in jedem Einzelfall entschlüsselt werden.Auch Hitler kann alles mögliche bedeuten, je nach Kontext.Hitler als Hinkucker, wie Medienmenschen das nennen, als optischer Effekt? Demokratie hat mit der Masse zu tun, deshalb bedeutet Demokratisierung auch immer zugleich Trivialisierung.Ein Hitler ist ein Hitler ist ein Hitler. mrt

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