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Kultur: Der allzu große Schrecken

Nicht immer fordern kalendarische Anlässe zu entsprechenden Feiern heraus.Der 100.

Nicht immer fordern kalendarische Anlässe zu entsprechenden Feiern heraus.Der 100.Geburtstag des Malers und Fotografen Ben Shahn wäre unbeachtet vorübergegangen, widmete nicht das Jüdische Museum New Yorks dem in den USA der Depressionszeit hervorgetretenen Künstler zum Jahresausklang doch noch eine bemerkenswerte Ausstellung.Unter dem Titel "Der einfache Mensch / Mythische Vision" würdigt das Haus das Nachkriegswerk dieses großen Realisten, wobei freilich die einleitend vorgestellten Arbeiten aus den dreißiger und frühen vierziger Jahren das aus heutiger Perspektive wohl stärkste Kapitel des reichen µuvres bilden.

Das ist nicht immer so gesehen worden.Die Anerkennung, ja Popularität, die der in Litauen geborene Shahn besonders in den fünfziger Jahren genoß, galten den einerseits verständlichen, weil figurativen, andererseits durch ihre lyrische Verknappung der bloßen Illustration enthobenen Schilderungen der condition humaine.

Bis gegen Ende des Krieges hatte Shahn als einer der Hauptvertreter des in den Vereinigten Staaten gewachsenen "Sozialrealismus" gearbeitet.Die Bildserie "Die Passion von Sacco und Vanzetti", die diesen Gerechtigkeitsfanatiker mitten in der Großen Depression bekannt machte, spart die jetzige Ausstellung leider aus.Doch die Gemälde, die Shahn in den folgenden Jahren vielfach unter Verwendung eigener Fotografien schuf, sind mit exzellenten Beispielen vertreten.Shahn, der als Immigrantenkind zunächst eine solide Ausbildung als Gebrauchsgrafiker genießen konnte, bevor er sich zum Künstler fortbildete, arbeitete in der New Deal-Ära als Fotograf für die "Farm Security Administration", die die desolate Lage der Landbevölkerung mit Hilfe der Fotografie umfassend dokumentieren ließ.Die Aufnahmen Shahns, den Arbeiten seines engen Freundes Walker Evans durchaus ebenbürtig, wurden erst nach dem Tod des Künstlers im Jahre 1969 bekannt und erfuhren mit dem breiten Interesse an der sozialdokumentarischen Fotografie in den siebziger Jahren entsprechende Würdigung.Erst zu dieser Zeit wurde die enge Verbindung zwischen fotografischem und künstlerischem Blick bei Shahn offenbar.

Doch Shahn wurde buchstäblich an der fotografischen Wahrheit irre.Während der Kriegsjahre arbeitete er beim militärischen Informationsdienst und hatte Zugang zu den unzensierten Aufnahmen des Schreckens, von den Holocaust-Opfern bis zu denjenigen verschiedener Bürgerkriege im Anschluß an den Weltkrieg.Seine künstlerische Sicht wandelte sich unter dem Eindruck der fotografischen Dokumente.Shahn suchte eine über die Wiedergabe des Faktischen hinausgehende Bedeutungsebene: "Ein Symbolismus, den ich zuvor als kryptisch angesehen haben mochte, wurde für mich die einzige Möglichkeit, das Gefühl der Leere und der Vergeudung auszudrücken, das der Krieg bei mir hinterließ, und das Gefühl der Nichtigkeit der Menschen bei ihrem Versuch, die Monströsität des Krieges zu überstehen", formulierte er rückblickend 1957.Bereits die elegischen Darstellungen des Kriegsendes wie die hier abgebildete "Befreiung" von 1945 weisen in diese Richtung.Die Darstellungen bleiben bewußt immer stärker hinter den realen Schrecknissen zurück, die sie mit künstlerischen Mitteln nicht mehr einholen können, um stattdessen über das Ereignis hinaus gültige Aussagen zu formulieren.An die Stelle der Wirklichkeitswiedergabe tritt die allgorische Darstellung, etwa von Krieg, Schuld und Schicksal.

Unter dem Eindruck der atomaren Bedrohung des Kalten Krieges fand Shahn in biblischen Motiven eine Möglichkeit, die Allgegenwart von Gewalt und Leid darzustellen.Die Bewußtwerdung des eigenen Judentums unter dem Eindruck des Holocaust, parallel dazu - und als historischer Ausdruck dieser jüdischen Renaissance - die Gründung des Staates Israel legten eine derartige, nunmehr über den religiösen Bereich hinaus wieder verständlich gewordene Bildwelt nahe.Zugleich hatte sich Shahn künstlerisch mit der Formensprache des abstrakten Expressionismus auseinanderzusetzen, unter dessen Vorherrschaft jede Figuration in Rechtfertigungsnöte geriet.Shahns Arbeiten der fünfziger Jahre suchen die Verbindung freier Formen und insbesondere Farben mit einer Art grafischen Grundgerüsts, um die "Erkennbarkeit" von Motiv und Gehalt sicherzustellen.Die Nähe zum Plakatdesign - in dem Shahn übrigens herausragende Arbeiten schuf - springt ins Auge.Oft genug entstanden Illustrationen, wie die Serie "Der glückliche Drache" zu einem Strahlenzwischenfall im Pazifik.Das Illustrative war der Preis der Verständlichkeit.

Die Konzentration der Ausstellung im Jewish Museum auf das Spätwerk läßt dessen Eigentümlichkeit und Eigenwert hervortreten.Geboten wäre gleichwohl eine Retrospektive des Gesamtwerkes.Ben Shahn war Grafiker, Maler und Fotograf, und erst aus der Spannung dieser Gattungen heraus erschließen sich seine jeweiligen künstlerischen Wege, die am Schluß der New Yorker Ausstellung in Melancholie verwehen.

New York, Jewish Museum, 1109 Fifth Avenue (Eingang 92nd Street), bis 7.März.Katalog 21,95 Dollar.

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