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Kultur: Der alte Mann und der Klepper

Eine Entdeckung aus Neuseeland: David Ballantynes Roman „Sydney Bridge Upside Down“.

Gibt es vertrauenswürdige Stimmen? Kann man vom Ton eines literarischen Erzählers so eingenommen sein, dass man gar nicht mehr recht hört, was er eigentlich erzählt? Darf man jemandem Glauben schenken, der schon öfter beim Lügen ertappt wurde, aber dem dennoch immer wieder etwas so rührend Unbedarftes anhaftet, dass man ihm kaum böse sein kann?

Eines ist sicher: Man sollte sich vor dem netten Harry Baird, dem Ich-Erzähler in David Ballantynes Roman „Sydney Bridge Upside Down“ nicht zu sehr täuschen lassen. Er mag einen einlullen mit seinen Geschichten, mit seiner Naivität, aber hinter dieser Jungsmaske könnte sich eine Fratze verbergen, die die furchtbaren Geschehnisse eines ganzen Sommers spiegelt. Ballantynes im Original schon 1968 erschienener Roman ist eines jener Bücher, die lange vor sich hinschlummern, bis sie eine neue Generation von Lesern entdeckt.

„Sydney Bridge Upside Down“ wurde in Neuseeland erst vor zwei, drei Jahren als vergessener Klassiker gefeiert – ein vermeintlich realistischer Roman über einen abgelegenen Küstenort namens Calliope Bay, und mehr als das: ein Schauerroman. Die ersten Zeilen des Buches tragen schon in sich, was sich erst nach und nach offenbaren wird: „Am Rand der Welt lebte ein alter Mann, und sein Pferd hieß Sydney Bridge Upside Down. Er hatte ein Gesicht voller Narben, und das Pferd war ein alter, lahmer Klepper, und ich beginne mit dem Mann und seinem Pferd, weil sie immer irgendwie dabei waren in jenem Sommer, als hier oben an der Küste diese schrecklichen Dinge passierten.“

Man merkt bereits an dieser kurzen Passage: Gregor Hens lässt in seiner Übersetzung dieser Stimme ihren kindlichen Klang, auch wenn wir später merken, dass die Ereignisse wohl gar nicht von einem Kind erzählt werden. Durch den unbedarften Gestus der Rede aber scheinen uns die Ereignisse aufdringlich nah – und durch den undurchsichtigen Blick zunächst zwar verlässlich, dann aber immer vager. Man weiß nicht, was dieser Junge eigentlich von seiner Welt versteht, oder ob er einen hinters Licht führen will, wie er auch seine Spielkameraden des Öfteren manipuliert.

Der andere Trick, mit dem einen David Ballantyne immer wieder in Zweifel versetzt, mit wem wir es eigentlich zu tun haben, besteht in einer gewissen Sprunghaftigkeit des Erzählens: Die erste Irritation tritt ein, als der Erzähler seinen Spielkameraden Dibs von einem Felsen ins Meer schubst. Es wird ganz sachlich davon berichtet und bleibt ganz unkommentiert. Ein lapidarer Satz, der uns plötzlich auf eine andere Zeitebene hievt, löst die Spannung nicht, aber führt uns weg von dieser Ungeheuerlichkeit: „Ich beginne noch einmal am Anfang dieses Tages.“

Immer wieder gibt es solche Sprünge im Handlungsverlauf. Und irgendwann ist nicht mehr klar, wie viele Tage oder Wochen eigentlich vergehen, wann welche Ereignisse stattfinden, ob sie sich überhaupt ereignen oder nur im Kopf des Erzählers. Was in diesem Sommer passiert, ist ungefähr Folgendes: Die großen Ferien haben begonnen, Harry Baird, sein jüngerer Bruder Cal und ihr gemeinsamer Freund Dibs schlagen die Zeit tot, spielen verbotenerweise in einer alten Fabrik, beobachten die anderen Bewohner des Ortes – vor allem den seltsamen Kauz Sam Phelps mit seinem Gaul Sydney Bridge Upside Down (der so heißt, weil sein klappriger Rücken gebogen ist wie besagte Brücke).

Harry und Cal leben bei ihrem Vater; die Mutter ist verreist. Zu Anfang ist unklar, ob sie krank ist, Verwandte besucht und wann sie zurückkommen wird, aber bald erfahren wir, dass sie mit dem Lehrer von Calliope Bay durchgebrannt ist und ein anderes Leben begonnen hat. Die Leerstelle, die durch die Mutter entsteht, wird ausgefüllt von Cousine Caroline, ein wenig älter und reifer als Harry. Sie verbringt ihre Sommerferien in dem Nest, und zwischen Caroline und Harry entwickelt sich eine ungleichgewichtige, durchaus erotisch flirrende Beziehung.

Spielerisch – die beiden tollen morgens nackt im Haus herum – entdeckt Harry so etwas wie Begierde, noch ohne einen Namen dafür zu haben oder sein Verlangen fassen zu können. Mit dieser verwirrenden Situation gehen auch Ängste und Eifersüchteleien einher, die den leicht entflammbaren, aggressiven Jungen zu einer unberechenbaren loose canon werden lassen. Jedenfalls ereignen sich seltsame Todesfälle, Unfälle oder Morde. Ein junges Mädchen, Susan Prosser, das Harry und Caroline bei den morgendlichen Fangspielen beobachtet hat (zumindest glaubt Harry das), erpresst ihn damit, der abwesenden Mutter einen Brief über sein schlechtes Betragen zu schreiben.

Man muss nicht Freud gelesen haben, um zu ahnen, welche Bedrohung dieses Mädchen darstellt. Sie wird wenig später tot in der alten Fabrikruine aufgefunden. Und auch Mr. Wiggins, ein schmieriger Kleinstadtgigolo, der Caroline unverhohlen nachstellt, kommt unter ungeklärten Umständen zu Tode. Harrys surreale Albträume sind als großartig verstörende Fremdkörper in den einfach erzählten Text eingestreut.

Ballantynes Buch entwickelt sich immer mehr selbst zu einem Albtraum, dessen Bilder nie so recht zu deuten sind. In diesem sehr ruhigen, vermeintlich unschuldigen Erzählen gibt es merkwürdig beiläufige Brüche und leichte Verschiebungen, die einen zusehends beunruhigen. Und die eigene Wahrnehmung verstören. Was als harmloses Jugendbuch beginnt, endet als Gruselroman, obwohl der Ton sich nicht ändert. Das ist ein seltenes Kunststück.

David Ballantyne: Sydney Bridge Upside Down. Roman. Aus dem neuseeländischen Englisch von Gregor Hens. Hoffmann & Campe,

Hamburg 2012.

335 Seiten, 19,99 €.

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