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Kultur: Der Appetit von gestern

THEATER

Irgendwo in Kleinrussland (heute Ukraine), so um das Jahr 1830, leben Afanassi Iwanowitsch Towstogub und seine Frau Pulcherija Iwanowna. Sie sind Gutsbesitzer der bescheidenen Art, aber üppige Selbstversorger, die alles, was in ihren Gärten und Ställen heranwächst, zu ausgesucht besonderer Nahrung veredeln – und aufessen, von früh morgens bis spät in die Nacht. Nikolai Gogol beschrieb das Pärchen in seiner Novelle „Gutsbesitzer alter Art“ mit rührender Liebe. Als Pulcherija stirbt, verkommt ihr wohlgenährter Mann, das Gut wird von den Bediensteten ausgeplündert, es verfällt und geht mit dem Tode des vereinsamten Herrn völlig zugrunde. Das berühmte Moskauer Künstlertheater zeigte jetzt im Berliner Maxim Gorki Theater – bei einem einmaligen Gastspiel – eine Theaterfassung der Novelle, als anheimelnde Miniatur inszeniert von dem litauischen Regisseur Mindaugas Karbauskis. Bescheidenheit ist das Prinzip der Aufführung, es gibt keine dramatische Handlung, dafür sorgsam ausgestellte Bilder von Menschen in nachdenklicher Stille. Karbauskis rückt den alten Gutsbesitzer, mit verträumter Intensität gespielt von Alexander Semtschew, ganz in den Mittelpunkt. Ein Fleischberg, der sich nur mühsam bewegen kann, in seinem Gesicht aber die Seligkeit des Essens und das selbstvergessene Genießen der unaufhörlichen Zuwendung seiner Frau spiegelt. Diese Pulcherija hat der Regisseur jung besetzt, mit der schmalen Polina Medwedjewa, die eher eine nüchterne, über alle Unbill großzügig hinwegsehende Dienerin spielt als die Herrin des Gutes. Überhaupt verschiebt Karbauskis das Anliegen der Novelle – er zeigt den Aufstand der jungen, huschenden, schlurfenden, springenden Bediensteten gegen das Alter, nicht den von Trauer umwehten Verfall einer alten Lebensart.

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